Corona, Sonne & Co. – oder wann fahren wir Rad?
Ein Gastbeitrag von Julian Emmerich und Christian Scherf
Julian Emmerich und Christian Scherf sind Mitarbeiter bei M-Five, einem unabhängigen
Thinktank mit Sitz in Karlsruhe. Der Schwerpunkt der Aktivitäten liegt auf zukünftiger Mobilität
und gesamtwirtschaftlicher Analyse. Seit 2015 erarbeitet M-Five mit einem interdisziplinären Team
in nationalen und europäischen Projekten Strategien zu Klimaschutz, Verkehrs- und
Industriepolitik sowie Innovationen und Geschäftsmodellen.
Mehr unter: www.m-five.de
Corona, Sonne & Co. – oder wann fahren wir Rad?
Seit Ausbruch der Corona-Pandemie wird von einem gesteigerten Fahrrad-Boom berichtet. Die ohnehin schon wachsende Beliebtheit des Fahrrades, so die Annahme, habe durch die Corona-Einschränkungen einen zusätzlichen Schub erhalten. Doch spiegelt sich dies in Nutzungsraten tatsächlich wider? Die Auswertung und Interpretation von Fahrraddaten ist anspruchsvoll. Zwar sind in zahlreichen Städten automatische Zählstationen im Dauereinsatz, deren Daten öffentlich zugänglich sind, doch an der Verkehrserzeugung im Radverkehr sind zahlreiche Faktoren beteiligt. Da die automatischen Zählungen zumeist an festen Orten erfolgen, kommen kleinräumige Effekte hinzu, wie sie z. B. Baustellen verursachen, die die Interpretation der Daten zusätzlich erschweren. In diesem Beitrag haben wir dennoch den Versuch unternommen, Radzähldaten aus Berlin, Köln und München miteinander ins Verhältnis zu setzen und hinsichtlich des Wetters sowie der Corona-Lage zu vergleichen.
Die nachfolgenden Grafiken zeigen die an automatischen Zählstationen des Unternehmens Eco Counter gezählten Radfahrten (Berlin und Köln) sowie Daten des Open Data Portals von München. Es handelt sich nicht um repräsentative Zählungen, sondern jeweils um 16 Stationen in Berlin, elf in Köln und fünf in München. Jede Station zählt über Sensoren die Anzahl der vorbeifahrenden Fahrräder. Die Stationen liegen an unterschiedlichen Standorten und unterliegen örtlichen Einflüssen. Da pro Stadt mehrere Stationen erfasst sind und offensichtliche Datenlücken bereinigt wurden, gleichen sich die lokalen Einflüsse teilweise aus. Die Diagramme zeigen die prozentuale Veränderung in den Monaten März, April, Mai und Juni der Jahre 2020 bzw. 2021 zum jeweiligen Monat im Jahr 2019, also vor der Corona-Pandemie. Positive Prozentwerte zeigen einen Anstieg der gezählten Radfahrten gegenüber 2019, negative Werte zeigen einen Rückgang.
Radfahren hat viele Gründe
Die Anzahl der gezählten Radfahrten hängt von diversen Faktoren ab. Hierzu zählen u.a. die Qualität der örtlichen Fahrradinfrastruktur, die Nutzungsprofile der Bewohner*innen sowie die allgemeine Verkehrssituation (z. B. Staus). Über den Einfluss dieser Randbedingungen auf die Fahrradzahlen können die Grafiken mangels Daten keine Auskunft geben. Um dennoch einzelne Kontextbedingungen zumindest ansatzweise zu berücksichtigen, haben wir uns zur Vereinfachung auf zwei Faktoren beschränkt:
- Zum einen der prozentuale Anstieg bzw. Rückgang der monatlichen Sonnenstunden als Ausdruck der Wetterbedingungen (jeweils Änderung gegenüber dem entsprechenden Monat in 2019): Die Daten stammen aus dem Wetterportal Klimakontor. Dabei ist zu berücksichtigen, dass im Juni hierzulande jahreszeitlich bedingt insgesamt mehr Zeit zwischen Sonnenaufgang und -untergang liegt, als in den drei Monaten davor. Auch aus diesem Grund nimmt die Wahrscheinlichkeit für Sonnenstunden im Jahresverlauf etwas zu (dieser Effekt wurde nicht normiert).
- Zum anderen der monatliche Durchschnitt der 7-Tage-Inzidenz als Ausdruck der Corona-Lage: Die Inzidenzwerte wurden aus Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI) für den jeweiligen Stadtkreis entnommen bzw. teilweise selbst errechnet.
Schönwetterradeln oder ÖV-Vermeidung?
Allgemein liegt die Vermutung nahe, dass eine erhöhte Zahl an Sonnenstunden zu mehr Radfahrten führt, da bei trockenem und warmen Wetter mehr Personen aufs Rad steigen. Hohe Inzidenzwerte könnten ebenfalls zu vermehrten Radfahrten führen, etwa dann, wenn Personen, die normalerweise Busse und Bahnen nutzen, aus gesundheitlichen Gründen auf das Fahrrad ausweichen oder wegen Homeoffice mehr im Nahbereich unterwegs sind. Für beide Annahmen lassen sich jedoch Ausnahmen finden: z. B. könnten besonders starke Anstiege der Sonnenstunden auf Hitzewellen hindeuten, die das Fahrradfahren erschweren. Umgekehrt lassen sich Rad-Enthusiast*innen durch Regenwetter nicht von ihrer Leidenschaft abhalten. Die Wirkung hoher Inzidenzwerte ist ebenfalls nicht ganz eindeutig: Gegenmaßnahmen können zu Einschränkungen im öffentlichen Leben – bis hin zu Ausgangsbeschränkungen – führen, was schließlich auch Radfahrten reduziert.
Trotz dieser und weiterer Einwände, möchten wir uns in den folgenden Grafiken anschauen, ob wir Anhaltspunkte für die beiden Ausgangsvermutungen entdecken oder gegensätzliche Beobachtungen überwiegen. Aufgrund mangelnder Repräsentativität machen wir keine statistischen Verallgemeinerungen, sondern beschreiben exemplarische Auffälligkeiten. Der Vergleich der beiden Jahre 2020 und 2021 kann aber z. B. erste Anhaltspunkte dazu liefern, ob die Wetter- bzw. Corona-Lage eher verstärkend oder eher abschwächend auf den Umfang der gezählten Radfahrten wirkt. Jede der folgenden vier Grafiken zeigt die Veränderung der Fahrradfahrten als Balkendiagramm. Die prozentuale Änderung der Sonnenstunden gegenüber 2019 und der Monatsdurchschnitt der örtlichen Inzidenzwerte sind jeweils in den Symbolen darüber angegeben.
Der März 2020 ist der Monat, in dem Corona zur Pandemie erklärt wurde und erste Auswirkungen auf den Verkehr auftraten. In allen drei Städten wurden mehr Radfahrten als im Monat des Vorjahres gezählt. Allerdings waren auch überall mehr Sonnenstunden zu verzeichnen, so dass unklar ist, inwieweit der Anstieg auf Corona zurückzuführen ist. Auffällig ist allerdings München, wo es mit einem Plus von 9 Prozent nur wenig mehr Sonnenstunden als im Vorjahrsmonat gab, während die 7-Tages-Inzidenz mit 33 im Monatsschnitt für damalige Verhältnisse schon relativ hoch lag. Der gemessene Radverkehr nahm ähnlich stark zu wie in Berlin und Köln, wo es etwa doppelt so viele Sonnenstunden wie im Vorjahrsmonat gab. Ein Jahr später, im März 2021, wurden in München über ein Drittel mehr Räder als im März 2019 gezählt, obwohl es etwa dieselbe Anzahl an Sonnenstunden gab.
München mag es anders
Auch für April 2020 ist eine deutliche Zunahme der Radzahlen in allen Städten ersichtlich. Hingegen ist ein Jahr später, im April 2021, in Berlin und Köln ein Rückgang zu sehen. Dies kann zum einen an der gegenüber 2019 geringen Zahl an Sonnenstunden liegen. Zum anderen können aber (auch) Maßnahmen im Zuge der Corona-Pandemie ursächlich sein. Hier überlagern sich möglichweise beide Effekte. Wiederum fällt der starke Anstieg der Radzahlen in München auf: Im April 2021 wurden ca. 15 Prozent mehr Räder gezählt als im April 2019, trotz ähnlicher Sonnenstundenzahl und bei sehr hohen Inzidenzwerten von weit über 100.
Im Mai 2020 besserte sich die Corona-Lage, was an den gesunkenen Inzidenzwerten zu sehen ist. Dennoch stiegen die Radzahlen in allen Städten gegenüber 2019 an, was zum Teil mit den vermehrten Sonnenstunden korrespondieren könnte. Ein Jahr danach, im Mai 2021, ging die Zahl der Radfahrten in Köln um 14 Prozent zurück, obwohl es nur geringfügig weniger Sonnenstunden als im Mai 2019 gab. Ein Grund könnte die angespannte Corona-Lage sein, die sich hier möglicherweise anders auswirkte als im Vormonat in München, wo die Radzahlen dennoch zunahmen (z. B. durch abweichende Krisenmaßnahmen wie Ausgangsbeschränkungen, Ladenschließungen etc.).
Der Juni zeigt abermals ein abweichendes Bild zwischen Berlin und Köln. In der Hauptstadt legten sowohl 2020 als auch 2021 die Radzahlen deutlich zu, obwohl in beiden Jahren etwa ein Drittel weniger Sonnenstunden auftraten als im Juni 2019. Auch in Köln gab es Ausschläge der Radzahlen nach oben, obwohl in beiden Monaten weniger Sonnenstunden lagen. Allerdings brach der Juni 2019 Temperaturrekorde, so dass ein Rückgang der Sonnenstunden eher als normal gilt. Für München lagen zum Veröffentlichungszeitpunkt noch keine aktuellen Daten vor, so dass kein Vergleich zwischen 2020 und 2021 möglich war.
Kommt Sonne, kommt Rad
Insgesamt scheint es, dass die Wettersituation sich etwas eindeutiger auf die Zahl der Radfahrten auszuwirkt, als die Corona-Lage. Die These eines generellen und bleibenden Anstiegs der Zahl der Radfahrten durch Corona können die Zahlen weder bestärken noch entkräften. Die Inzidenzwerte geben nur einen sehr vagen Eindruck der Auswirkungen, da sie wenig über die Effekte der Krisenbewältigung aussagen. Zudem spielt das Radfahren nicht nur im beruflichen Bereich (Pendelfahrten zum und vom Arbeitsplatz), sondern auch im Privat- und Freizeitbereich eine Rolle. Daher ist hier die Überlagerung mehrerer Effekte wie Homeoffice, Kurzarbeit oder Nahmobilität besonders vielfältig.
(Die Erhebungen erfolgten nach den Standards des wissenschaftlichen Arbeitens, dennoch kann keine Gewähr für die Genauigkeit und Vergleichbarkeit übernommen werden.)
Weiterführender Link:
- Scherf C., Emmerich J. (2021): Kommt Zeit, kommt Rad – Ändert Corona das Radfahrverhalten? M-Five Policy & Futures Note, Ausgabe No.3, Karlsruhe.
Datenquellen:
- Raddaten Berlin: https://data.eco-counter.com/ParcPublic/?id=4728
- Raddaten Köln: https://data.eco-counter.com/ParcPublic/?id=677
- Raddaten München: https://www.opengov-muenchen.de/dataset?tags=Raddauerz%C3%A4hlstellen
- Wetterdaten: https://www.wetterkontor.de/de/wetter/deutschland/monatswerte.asp
- RKI-Corona-Daten: https://npgeo-corona-npgeo-de.hub.arcgis.com
Der Mobilitätsmonitor:
- Mobilitätsmonitor 11, November 2020
- Mobilitätsmonitor 10, März 2020
- Mobilitätsmonitor 9, November 2019
- Mobilitätsmonitor 8, Mai 2019
- Mobilitätsmonitor 7, November 2018
- Mobilitätsmonitor 6, Mai 2018
- Mobilitätsmonitor 5, November 2017
- Mobilitätsmonitor 4, April 2017
- Mobilitätsmonitor 3, November 2016
- Mobilitätsmonitor 2, April 2016
- Mobilitätsmonitor 1, September 2015