
Eine Geschichte von vielen
Ein Kommentar von Theresa Pfaff
Theresa Pfaff ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe
Digitale Mobilität und beschäftigt sich im Projekt Verkehrswende erleben
damit, wie durch Visualisierungen unterschiedliche Menschen für eine
Verkehrswende erreicht werden. Ihr Hauptinteresse liegt bei der
Dekonstruktion der aktuellen Straßenstruktur und den dazugehörenden
Selbstverständlichkeiten unserer Mobilität, die sich dadurch etabliert haben.
In Berlin genießt sie derzeit die neuen breiten Fahrradwege und wünscht
sich, dass Sicherheit nicht weiter der Grund ist, der Menschen vom
Radfahren abhält.
*** Im Beitrag geht es um Verkehrsunfälle und Verkehrssicherheit.***
Eine Geschichte von vielen
Juli 2021. Wieder sitzen Menschen abends an der B1, Abschnitt Frankfurter Allee. Vor ihnen Blumen und Kerzen, hinter ihnen ein weißes Fahrrad. Eine Radfahrerin ist an dieser Stelle gestorben. Eine mir sehr vertraute Situation. Ein Freund war einer von 17 Radfahrenden, die 2016 im Berliner Verkehr gestorben sind. 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17. Er ist gestorben, weil ein Autofahrer über Rot gefahren ist an der B1. Es ist eine Geschichte von vielen, die sich jedes Jahr wiederholen in unterschiedlichen Situationen und Konstellationen. Jedes weiße Fahrrad ist eine Erinnerung daran, dass wir etwas ändern müssen und dass es schneller gehen muss. Oft stehen diese Symbole an Schnittstellen zwischen Radfahrenden und Autos, dort wo die Interaktion eigentlich geregelt wird – durch Ampeln. Ein Kontext in dem eine Mischung aus Licht und Farbe eine ungenaue Steuerung bietet, wie sich Verkehrsteilnehmende verhalten sollen. Gerade beim Rechtsabbiegen birgt diese unangenehme Gegenüberstellung viel Konfliktpotenzial.
Gegen den Kollateralschaden
Verkehrstote sind der „Kollateralschaden“, damit sich die Allgemeinheit „frei und unabhängig“ fortbewegen kann. Eine sechsspurige Straße wie die B1 in Berlin, auf der man 50 km/h fahren kann, die freie Fahrt suggeriert und durch ein dicht besiedeltes Gebiet führt, ist grob fahrlässig. Es ist „letztendlich die Straßenstruktur [die] vorgibt, wie man sich verhält. Denn wenn eine breite Straße wie eine Autobahn aussieht, halten sich die Leute vielleicht nicht an die 40 km/h, weil sich die Straße nicht danach anfühlt.“ (Bürgermeisterin für Stadtentwicklung Anni Sinnemäki aus Helsinki). Eine Schnittstelle zwischen verschiedenen Verkehrsteilnehmer*innen muss sich anders „anfühlen“, Infrastruktur in Städten muss sich nach Entschleunigung anfühlen und nicht mehr so, dass dem Auto so viel Platz für maximale Geschwindigkeit eingeräumt wird. Die Straße sollte sich so anfühlen, dass sich alle sicher fühlen können und es auch sind. Sicherheit und nicht Bequemlichkeit ist oft der Grund, warum Menschen nicht auf das Fahrrad umsteigen.
Politische und technische Lösungen sind vorhanden
Wie verhindert man fatale menschliche Fehler an sensiblen Schnittstellen, z. B. beim Rechtsabbiegen? Inwiefern können Autofahrende für ihr eigenes Gewaltpotenzial sensibilisiert werden, ohne dass dabei einfach nur Fronten verschärft werden und Menschen das Gefühl bekommen, ihnen wird etwas weggenommen?
Für ersteres gibt es politische und technische Lösungen. Tempo 30 auch auf Hauptstraßen in den Städten wäre ein Anfang, genau das wird aktuell von einer städteübergreifenden Initiative gefordert. Berechtigterweise wird diese Forderung nicht nur mit Sicherheit argumentativ verknüpft, sondern auch mit der Vision einer „lebenswerten Stadt“. Abbiegeassistenten sind eine technologische Lösung für LKWs, die oft in diesen Unfällen eine Rolle spielen. 2022 sollen sie verpflichtend sein, momentan ist die Aufrüstung noch freiwillig. Für Zweiteres muss sich die Straßenverkehrsordnung wandeln und nicht im Zweifel immer die Priorität des motorisierten Individualverkehrs in den Vordergrund stellen. Veränderungen sollten nicht erst mit Hinweis auf Gefahrenlagen ermöglicht werden. Statt einer Sensibilisierung der Autofahrenden können bestehende Privilegien für eine neue Realität auf der Straße abgeschafft werden. Das Mobilitätsgesetz in Berlin ist ein Anfang, allerdings braucht seine Umsetzung beim jetzigen Tempo bis zu 200 Jahren, wie die Initiative Changing Cities prognostiziert.
Automatisiert fahrende Fahrzeuge rasen nicht
Neue Techniken können ebenfalls ihren Beitrag leisten. So lassen sich automatisiert fahrende Fahrzeuge auf bestimmte Prinzipien programmieren. Sie folgen zuverlässig einfachen Regeln, z. B. an roten Ampeln immer und unter allen Umständen zu stoppen und bestimmte Geschwindigkeiten einzuhalten. Sie würden nicht rasen, weil großzügige Straßen sie dazu einladen.
„Werden diese Prinzipien in den Fahrzeugen umgesetzt, wird der Verkehr nicht nur insgesamt sicherer,
sondern auch weniger aggressiv. Ein autonomes Fahrzeug wird nie mit Absicht eine Radfahrerin schneiden,
einem Fußgänger die Vorfahrt nehmen, noch schnell bei Dunkelgelb Gas geben oder sonstige Rüpeleien begehen,
die in unserem nicht-algorithmischen Verkehr alltäglich sind. An die Stelle des Rechts des Stärkeren könnte
die Stärkung bislang benachteiligter und schwächerer Verkehrsteilnehmerinnen treten. Die wirklich interessante
Frage: Ab wann soll eine Technologie zugelassen werden, auch wenn sie noch nicht perfekt ist? Hier müssten
die Gesetzgeber abwägen zwischen den Menschenleben, die durch die Technologie gerettet werden können,
gegen diejenigen, die Opfer einer noch nicht ausgereiften Technik werden.“
(Timo Daum in: Das Filter, April 2018)
Diese Diskussionen sollten wir führen, aber vor allem sind Taten und neue Flächenverteilungen dringend notwendig. An mindestens einem Tag im Jahr schleichen sich bei mir die Fragen ein, was wäre gewesen, wenn wir seit 2016 autonome Fahrzeuge hätten, mit denen menschliche Fehler, wie über Rot zu fahren, nicht möglich wären und eine Bundestraße ab der Stadtgrenze nur noch eine Geschwindigkeit bis 30 km/h (oder weniger) zugelassen hätte?
Ich frage mich aber auch, wie das angebliche Blackout des Fahrers hätte verhindert werden können durch eine Fahrbahnverengung an dieser markanten Schnittstelle zwischen Fuß- und Radfahrenden und Autos, die bisher nur durch Licht und Farben geregelt wird? Mein Argument für eine radikalere Veränderung ist eine Geschichte von vielen, daran geknüpft ist die allgemeine Sicherheit und unsere Lebensqualität (und ich habe hier noch nicht mal das Klima erwähnt). Wir müssen auf den Boden der Tatsachen, im wahrsten Sinne. Die Straßen und das Verkehrssystem in der Stadt sind eine Fehlkonstruktion, die Schaden anrichtet. Es gibt konstruktive Lösungen.
Weiterführende Links:
- 21 Verkehrstote im ersten Halbjahr 2021 in Berlin: Was jetzt passieren muss, Berliner Zeitung (07.07.2021)
- Mobilitätswende vor Ort, Positionspapier Agora Verkehrswende (06.07.2021)
- Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten, Positionspapier Agora Verkehrswende (06.07.2021)
- Verkehrsaktivisten nach drei Jahren Berliner Mobilitätsgesetz ernüchtert, Der Tagesspiegel (28.06.2021)
- Fahrradverkehr: Wie Finnlands Hauptstadt die Unfallzahlen herunterbrachte, heise.de (29.01.2021)
- Autonomes Fahren: Wenn die Ethik im Stau steht, Das Filter (16.04.2018)