Öffentlicher Verkehr: Schafft euch bitte ab!
Ein Kommentar von Anke Borcherding
Anke Borcherding ist neben ihrer Tätigkeit als Mobilitätsbeauftragte der FU Berlin,
Gastautorin der Forschungsgruppe Digitale Mobilität am WZB. Sie beschäftigt sich
theoretisch und vor allem praktisch mit Projekten zum Thema Mobilität und ist
in der Stadt und auf dem Land immer nur mit dem ÖV, dem Rad und manchmal mit
einem Carsharing-Auto unterwegs. Da sammelt sich viel eigene Empirie an.
Schafft euch bitte ab!
Eine Polemik zum Öffentlichen Verkehr und wie er sein sollte
Der Öffentliche Verkehr (ÖV) soll das Rückgrat der Verkehrswende sein oder werden. Aktuell ist er eher die Achillesferse. Die Zustimmung in der Bevölkerung zu Bussen und Bahnen ist dramatisch niedrig. Auf dem Land gibt es viel zu starre Verbindungen und zu wenige Fahrgäste, in der Stadt ist der ÖV oft subjektiv viel zu voll. Daran wird sich auch so schnell nichts ändern. Während der Corona-Pandemie hat der ÖV noch einmal Fahrgäste verloren, vielerorts spielt er nur mehr eine marginale Rolle.
Die Fahrgäste mögen das Maskentragen nicht, haben Angst vor Ansteckung. Das ist derzeit sicher ein Problem, aber der größte Haken des ÖV ist seine mangelhafte Flexibilität. Leere Busse fahren ihren starren Fahrplan ab, Anschlüsse werden nicht erreicht, weil der Bus abgefahren ist, bevor die verspätete Bahn angekommen ist. In den Regionalbahnen ist der Mindestabstand in der Rush Hour wie bei den Sardinen in der Büchse.
Der Fortschritt in der öffentlichen Mobilität ist bekanntlich eine Schnecke.
Um den ÖV-Fahrenden oder Multimodalen oder denen, die den ÖV zwangsläufig nutzen müssen, das Warten auf die Verkehrswende zu erleichtern, gibt’s hier ein paar praktische und einfache Vorschläge:
Der erste Vorschlag: Schafft eure Tarife, Tarifverbünde, Tarifgrenzen, Ticketautomaten, Schwarzfahrkontrollierenden ab und beschäftigt euch mit einfachen Zugängen zu euren Bussen und Bahnen: smart, barrierefrei und preiswert. Bietet keine Tickets an, sondern eine allgemeine Fahrtberechtigung, eine BahnCard 100 für den ÖV, eine ÖV-Card 100, mit dem alle Verkehrsmittel genutzt werden können: einfach einsteigen und fahren, egal wann und wohin und wie oft.
Vielleicht kann eine ÖV-Card 100 mit oder ohne Fernverkehr gebucht werden, vielleicht nur für den regionalen oder lokalen Verkehr – je nach Bedarf, aber Hauptsache einfach zu verstehen, zu buchen und wieder abzuschalten. Die Deutsche Bahn hat vor Jahren Touch & Travel getestet: check in und out mit dem Handy zum Best Price. Das war eine technische Option, um Reisen ohne Kenntnis von Tarifen zu ermöglichen. Sie wurde jedoch wieder abgeschafft. In den Niederlanden ist dieses System eingeführt. In Berlin findet es Jahre später als Test statt. Die Schnecke dreht sich im Kreis.
Der zweite Vorschlag richtet sich an die Macherinnen des ÖV: Wie wäre es, wenn ihr euch für euer Angebot interessieren würdet? Wie wäre es, wenn ihr eure Autos stehenlasst und mit dem ÖV fahrt? Dann bekommt ihr erst ein Gefühl für euer Angebot. Die Fahrpläne werden nämlich immer nur für die anderen gemacht. In den Regionalbussen sitzen Schülerinnen, Rentnerinnen, Touristinnen etc., aber nicht diejenigen, die den ÖV planen und umsetzen.
Wir brauchen einen ÖV, den die Macherinnen selbst nutzen wollen.
Solange der ÖV nicht besser ist als das Auto, wird er nicht das Rückgrat der Verkehrswende sein. Wenn man sich den Zugang zu einem Auto verschafft hat, eröffnet sich die große Freiheit, selbst zu entscheiden, wann es wohin gehen soll – zumindest in den Zeiten, in denen nicht alles zugestaut ist. Nutzt man den ÖV, hat man die große Freiheit zu entscheiden, welchen Bus man nimmt – aber sonntags nur bis 16 Uhr oder gar nicht, nachts leider auch nicht. Eine Garantie, einen Anschluss zu bekommen, gibt es grundsätzlich nicht. Autonomie versus Bevormundung. Wer würde sich da nicht für die Autonomie entscheiden wollen?
Dabei kann sich der ÖV zugänglicher machen, für Kundinnen die Zugangs- und Reisebedingungen vereinfachen und preiswerter gestalten. Der ÖV hätte eine Chance, wenn er sich vom Korsett beim Angebot und bei den Zugängen befreien würde. Wenn er Ballast abwerfen, statt immer neue Kleinigkeiten erfinden würde. Da können auch die digitalen Techniken helfen. Nötig wäre eine konsequente Orientierung an den Kundinnen und nicht am System ÖV. Dann wird das Warten auf die Verkehrswende angenehmer. Sonst kann man ihn auch abschaffen.
3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Danke für den guten Beitrag hier! Auch wenn es eine Polemik zum Öffentlichen Verkehr ist, ist der Vorschlag “Schafft eure Tarife, Tarifverbünde, Tarifgrenzen, Ticketautomaten ab”, sehr gut und hoffentlich ernst gemeint.
Ja, natürlich brauchen wir langfristig ein “check in und out mit dem Handy zum Best Price” übergreifend für alle Mobilitätsformen. Daher gehört zur meiner eMIT Konzeptidee auch ein Mobilitäts-Karte für jede(n) Bürger(in).
Auch eine Garantie, einen Anschluss/eine Mitfahrt zu bekommen, ist sehr wichtig, um aufs eigene Fahrzeug mal verzichten zu können. Nur so wird ein Großteil der Bevölkerung bereit sein für das #Mitfahren in Bus und Bahn und auch im PKW – egal, ob mit privaten Fahrer oder als Taxi. Alle diese Mobilitätsformen müssen gemeinsam mit den individuellen Formen (Fuß, Fahrrad, Auto-Fahrzeug) gedacht und optimiert kombiniert umgesetzt werden. Nur so wird Mobilität möglichst nachhaltig mit wenig Verkehr.
Sehr zutreffende Argumente, die ich in vielerlei Hinsicht aus eigener Erfahrung bestätigen kann. Als Besitzer eines VRS-Jobtickets nutze ich das städtische und regionale ÖV-Angebot regelmäßig favorisiert in Kombination mit dem Fahrrad, was mir nahezu 100% Flexibilität und auch zeitliche Konkurrenzfähigkeit zum MIV verschafft, wenn man auch noch Parkplatzsuchzeiten am Zielort in der Stadt einkalkuliert.
Damit sich die Menschen aber zunehmend vom MIV zum multimodalen Verkehr hinbewegen, braucht es nicht nur mehr Attraktivität, Zuverlässigkeit, Sauberkeit und Bequemlichkeit (also auch Barrierefreiheit, etc.), sondern eine ganz klare Steuerung über Preise. Der MIV muss deutlich teurer werden und zwar nicht bei den Fixkosten (die sollten m.E. eher gen Null tendieren, also z.B. jährl. Kfz-Steuer, Haftpflicht, etc.), sondern in Bezug auf die variablen Kosten pro gefahrenem km. Wenn es eine Hürde bei der Anschaffung eines Kfz gäbe (also Kfz-Erwerbssteuer einmalig bei Kauf, Größen-, Hubraum-, PS- & Emissions abhängig) und eine deutliche Anhebung der Kraftstoffpreise (z.B. > 2,50€/l), dann würden bei gleichzeitigem ÖV-Card 100 für vielleicht 365€/Jahr wesentlich mehr Menschen aus ökonomischen Gründen auf den Besitz eines privaten Kfz verzichten. Viele Menschen rechnen bei der Option Auto oder Bahn derzeit nur Spritkosten. Ein aktuelles Beispiel hierzu: Meine Frau und ich haben uns ein DB-Ticket Köln-Augsburg und München-Köln zurück für in etwa 6 Wochen zum Preis von 261 € (inkl. 2 Fahrräder und 25% Probe-Bahncard) gekauft. Mit dem Auto würden wir gefühlt für die Hälfte des Preises nach Augsburg fahren, dort 2 Tage parken, mit DB von München zurück nach Augsburg und wieder nach Köln fahren können. Wenn man Vollkosten rechnen würde (Wertverlust/Abschreibung, Steuer, Versicherung, Verschleiß, Reparaturen, Inspektionen, TÜV, etc.) wäre die Autofahrt sicherlich deutlich teurer als 261 €, aber so kalkuliert niemand, der sein Auto so oder so auf seinem Stellplatz stehen hat.
Die Preise, die für den privaten Besitz und die variable Nutzung eines Kfz deutlich steigen müssten (um auch externe Kosten für z.B. Infrastruktur-, Umwelt- und Gesundheitsfolgekosten abzudecken), sollten zum überwiegenden Teil in die Förderung nachhaltiger und gemeinschaftlich, öffentliche Verkehrsmittel gesteckt werden. Kaufprämien für e-Autos, Firmenwagenregelungen, etc. gehören ebenfalls abgeschafft, da sie in keinster Weise sozial gerecht sind. Aber ich schweife ab. Ja, für eine wirkliche Verkehrswende braucht es Veränderung, neues Denken, politischen Mut und schnelle verwaltungstechnische Umsetzung über Kommunen- und Landesgrenzen hinweg.
Das ist aus meiner Sicht einer der besten Kommentare der letzten Jahre zur Lages des ÖPNVs. Als ehemaliger Bewohner des VRS-Gebietes kann ich die Erfahrungen inkl. Fahrrad von Herrn Caris-Taube bestätigen. Ich musste leider aus Kostengründen mit meiner Familie aus den VRS-Gebiet wegziehen und wohne nun in einer billigeren Stadt. Die Anschaffung eines Zweitwagens war daraufhin leider notwendig. Vorallem deswegen, weil sich die fußläufig erreichbare Grundschule zu einer Brennpunktschule entwickelt hatte und wir eine weiter entfernte Grundschule wählen mussten. Beim Kinderarzt ergab sich letztes Jahr ein ähnliches Szenario. Auch wenn es etwas übertrieben klingt, muss die Sache ganzheitlich gesehen werden: Warum legen Menschen die Strecken mit dem Auto und nicht mit dem ÖPNV zurück? Weil es zeitsparender und wirklich notwendig ist. Ich bin froh, dass ich mir die zwei Autos leisten kann. Eine Verteuerung könnte ich akzeptieren, wenn sich nachweislich ökologisch etwas verbessern würde. Eine Verteuerung des Autos mit einer Verdoppelung des Dieselbus-Taktes würde uns nichts bringen.
Ein ÖPNV wird außerhalb von Ballungsräumen nie die Flexibilität eines Autos erreichen. Mathematisch gesehen müsste sich der ÖPNV dem Auto annähern und zum Auto werden, damit ich mit dem ÖPNV zur Arbeit kommen könnte. Wenn ich mir hier den Dieselbus-ÖPNV unserer Stadt anschaue funktioniert dieser nur mit Rentnern und Schülern und ein paar Berufstätigen, die wahrscheinlich so wenig verdienen, dass sie sich kein Auto leisten können. Das bedeutet vorallem viele Leerfahrten und kaputte Straßen durch den Schwerlastverkehr.
Die oben genannten Vorschläge sind sehr gut. Ich bezweifle aber, dass etwas davon umgesetzt wird, da aus meiner Sicht die Verkehrsunternehmen im status qou von der Verflechtung mit der Politik sehr gut profitieren und keinen Anreiz haben etwas zu ändern. Laut Definition arbeiten sie ja in ihrer eigenen Parallelwelt kostendeckend.