Über die Mobilität von Morgen in Stadt und Land
Ein Interview mit Weert Canzler
Weert Canzler ist Leiter der Forschungsgruppe
Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung
und Sprecher des Leibniz-Forschungsverbundes Energiewende.
Gemeinsam mit seinem Kollegen Andreas Knie wurde er 2021
mit dem Bertha-und-Carl-Benz-Preis der Stadt Mannheim
ausgezeichnet.
Über die Mobilität von Morgen in Stadt und Land
Die EnBW hat ein neues Geschäftsfeld betreten – Sie entwickelt und betreibt Stadtquartiere. Ein wichtiger Punkt dabei: Die Mobilitätsbedürfnisse der Menschen. Wir sprachen mit dem Mobilitätsforscher Weert Canzler über die Stadt der Zukunft und darüber, wie wir morgen und übermorgen von A nach B kommen werden.
Herr Canzler, welche Rolle spielt Mobilität im heutigen urbanen Leben?
In unseren heutigen Städten ist Mobilität das verbindende Glied zwischen den drei räumlich voneinander getrennten Bereichen Wohnen, Arbeit und Freizeit. Dieses Konzept der Funktionstrennung im Städtebau ist in den dreißiger Jahren entstanden und hat schließlich zum Konzept der autogerechten Stadt geführt.
Angesichts von täglichen Staus im Berufsverkehr: Ist die Funktionstrennung keine gute Idee gewesen?
Sie war damals sehr fortschrittlich und sinnvoll. Aber das Konzept ist am Ende nicht aufgegangen. Die Nebenfolgen der Automobilisierung sind überall mit Händen zu greifen. Sie haben vieles an Urbanität zerstört. Außerdem haben wir ja nicht mehr diese Industriestruktur wie vor neunzig oder hundert Jahren: Die Produktionen sind viel sauberer geworden und wir haben riesige Dienstleistungsanteile in den Städten. Es gibt also den objektiven Grund für die Funktionstrennung gar nicht mehr.
Was bedeutet das konkret für die Stadtplanung?
Stadt ist jetzt ganz anders zu denken. Jetzt geht es um die Integration von Funktionen. Und dann spielt Mobilität innerhalb einer urbanen Struktur eine viel geringere Rolle, weil einfach die Entfernungen nicht mehr so groß sind. Deshalb entstehen ja auch aktuell Konzepte wie das der 15-Minuten-Stadt, in der alle wichtigen alltäglichen Ziele innerhalb einer Viertelstunde ohne eigenes Auto zu erreichen sind. Und wenn man heute neue Stadtquartiere plant und entwickelt, dann muss man eben Integration denken. Neben der angesprochenen Integration der Funktionen geht es auch um soziale Integration, die Mischung von Generationen und Lebensphasen. All das muss sich in Stadtquartieren mit kurzen Wegen und einer hohen Aufenthaltsqualität auf den Außenflächen widerspiegeln.
Es werden vielerorts neue Stadtquartiere geplant und gebaut. Welche Fehler werden da gemacht? Was sollte man vermeiden?
Der erste Fehler ist natürlich, dass man noch in den alten Kategorien und Funktionen denkt: Man hat hier ein Wohngebiet, da ein Gewerbegebiet und dort ein Bürogebäude – das ist im Denken und den Konzepten von Architektur nach wie vor drin. Es gibt nicht viele Architekturbüros, die diese neue Mischung überhaupt können. Und der andere große Fehler ist, dass immer noch alle sehr auf das Auto fixiert sind. Das Auto hat sich in das Leben und seine Routinen hineingefressen. Und das erfordert nicht nur Flächen zum Fahren, sondern auch, um die Dinger abzustellen. Tiefgaragen sind übrigens ein Grund, warum Bauen in Deutschland so teuer ist. Und ein weiterer häufiger Fehler wird bei der Anbindung an den ÖPNV gemacht. Die ist natürlich elementar für ein neues Quartier. Aber oft wird erst das Quartier gebaut und hinterher kommt die ÖPNV-Anbindung. Das muss natürlich umgekehrt passieren.
Gibt es auch Beispiele, die Sie besonders gelungen finden, die Vorbild sein könnten?
Die Hafencity in Hamburg geht sehr weit in die richtige Richtung – allerdings im Hochpreissegment. Normale Menschen können es sich nicht leisten, dort zu leben und zu wohnen. International am interessantesten finde ich derzeit ein Neubauquartier in Utrecht. Dort wurde eine direkt am Amsterdam-Rhein-Kanal entlangführende Autobahn überdeckelt. Neben der überdeckelten Fläche entsteht ein Wohnquartier, in dem zunächst einmal alles Mögliche an Funktionen zugelassen wird und in dem zunächst einmal keine Autostraßen, sondern Fahrradstraßen gebaut werden. Diese sind angeschlossen an die Altstadt und den Bahnhof. Und erst dann, im dritten Schritt überlegen die Planer und fragen sich: ‚Wo brauchen wir jetzt noch Straßen für den Zulieferverkehr mit Autos und LKW, Müllfahrzeuge und Krankenwagen?‘ Das ist die Herangehensweise, und was man bisher dort sehen kann, ist wirklich umwerfend.
Fällt Ihnen ein ähnlich positives Beispiel in Deutschland ein?
(Weert Canzler denkt kurz nach.) Ehrlich gesagt nicht. Ich habe den Eindruck, wir sind noch nicht so weit.
Ärgert Sie das persönlich?
Es ärgert mich nicht fundamental, weil ich nicht in diesem Business bin. Aber wenn ich Architekt oder Stadtplaner wäre, würde ich schon fragen, warum andere Länder da schneller und konsequenter sind.
Wenn wir die Chance haben, ein Quartier zu planen und neu zu bauen, dann sollten wir also das Auto von vornherein möglichst aussperren?
Weitgehend schon, ganz ohne Autos wird es aber nicht gehen. Da müssen Sie nur mal an die Alten denken. Natürlich muss es möglich sein, jemanden zu bringen oder abzuholen. Aber das Auto darf man dann halt nicht einfach da stehen lassen. Und die Chance hat man ja bei neuen Stadtquartieren. Da weist man einfach keine oberirdischen Parkflächen aus.
Die Menschen in diesen neuen Quartieren werden vermutlich weniger Autos haben, Trotzdem haben sie natürlich Mobilitätsbedürfnisse. Wie werden sie von A nach B kommen?
Es gibt schon seit Längerem das Konzept der so genannten Mobilitätsstationen. Die gibt es in verschiedenen Großstädten, Bremen ist in Deutschland ein Vorreiter, Hamburg ist auch ziemlich aktiv. Das sind Stationen, bei denen man alles aus einer Hand ausleihen kann, vom Fahrrad über das Auto bis hin zum Kleinlaster. Man muss sich nicht groß kümmern: Egal was man braucht, man kann alles in einer App buchen. Ein flächendeckendes Netz von solchen Stationen wäre eine wirklich gute Lösung. So ein „Mobilitäts-Hub“ gehört eigentlich in jedes Neubauquartier, und zwar an zentraler Stelle und nicht zu weit weg von den Wohn- und Arbeitsstätten. Denn bei etwa 300 Meter Entfernung gibt es eine Hemmschwelle, die kennen wir auch von ÖPNV-Stationen.
Sie sagten, das Konzept der autogerechten Stadt sei nicht mehr zeitgemäß. Verliert damit auch der private PKW selbst seine Bedeutung?
Da müssen wir unterscheiden zwischen Stadt und Land. Im ländlichen Raum wird das Auto auch weiterhin eine große Rolle spielen, weil es das flexibelste und zweckmäßigste Verkehrsmittel ist und es dort keinen Flächennotstand gibt. Ich spreche ausdrücklich vom wirklich ländlichen Raum. Die Autos werden in Zukunft natürlich elektrisch angetrieben, übrigens dann im Wesentlichen mit selbst geerntetem Strom. Platz für PV-Anlagen gibt es auf dem Land ja auch genug. Da gilt es, die Prosumer intelligent miteinander zu vernetzen.
Das ist ein Modell für die Fläche. Aber wie sieht es in den Klein- und Mittelstädten aus? Was passiert beispielsweise zwischen Stuttgart und der Schwäbischen Alb?
Auch da wird es ein Umdenken geben. In diesen Städten hat das Auto eine absolut dominante Rolle. Es gibt dort kaum einen halbwegs gutverdienenden Haushalt, der nicht mindestens zwei Autos hat, häufig sogar drei. Da werden wir schon schauen müssen, ob man das nicht geschickter machen kann, zum Beispiel über Services: Man muss ja nicht immer einen eigenen Wagen haben, man kann schließlich auch Dienstleistungen kaufen, also Part-Time-Cars oder Sharing-Varianten. Außerdem glaube ich, dass der ÖPNV einen Sprung machen kann, wenn er flexibel die letzte und die erste Meile überwindet. Da kann ich mir einen sinnvollen Einsatz von autonomen Fahrzeugen vorstellen, um zum nächsten größeren ÖPNV-Punkt zu kommen – und von dort dann auch in die großen Städte.
Und wie wird die Mobilität innerhalb der großen Städte in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren aussehen?
Dort werden viele Wege zu Fuß oder mit dem Fahrrad – oder in Städten mit vielen Steigungen wie etwa Stuttgart mit dem Pedelec – zurückgelegt werden, weil die Distanzen meist nicht sehr groß sind. Das private Auto kann in Zukunft nicht mehr den dominanten Platz haben, den es heute noch hat. Natürlich wird es immer Leute geben, die das Auto bevorzugen und auch immer Anlässe, in denen ein Auto Vorteile gegenüber allen anderen Verkehrsmitteln hat, etwa, wenn man etwas Sperriges transportieren muss. Aber es muss ja nicht das eigene sein.
Ist Car-Sharing da eine Alternative?
Unter den jetzigen Bedingungen ist Car-Sharing etwas Zusätzliches zu den vielen privaten Autos. Erst wenn es richtig Geld kostet, mit dem privaten Auto in die Stadt hineinzuzufahren, es dort abzustellen, dann überlegt man sich doch, für diesen Anlass ein Fahrzeug zu leihen, anstatt die hohen Kosten für das eigene Auto zu tragen. Die fortschrittlichsten Städte in Europa gehen alle in dieselbe Richtung: ein Umwidmung von Parkplätzen, eine konsequente Parkraumbewirtschaftung und eine City-Maut. Schauen Sie nach Brüssel oder Mailand, nach Paris oder Helsinki, die verfolgen alle diese Strategie.
Weniger Autos brauchen weniger Platz. Wie können die zum Teil gigantischen Verkehrsflächen in den Großstädten sinnvoll genutzt werden?
Wir brauchen einen massiven Rückbau von Straßen und Parkplätzen. Auf diesen Flächen können zum Teil neue Wohngebäude entstehen. Aber der größere Teil wird entsiegelt und begrünt werden müssen. Wir müssen die Städte auch wegen des Klimawandels umbauen: Wir brauchen mehr Sickerflächen, mehr Pflanzen und Bäume in den Städten. Spätestens seit den Unwetterkatastrophen im Juli 2021 sollte jedem klar sein: Klimaresilienz wird in Zukunft ein ganz zentrales Thema bei der Stadtplanung sein müssen.
Das Interview ist im Original nachzulesen unter enbw.com