Diess-Forderungen: “Die Mobilitätswende ist kein Verliererthema mehr”
Ein Interview mit Weert Canzler
Weert Canzler ist Leiter der Forschungsgruppe
Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung
und Sprecher des Leibniz-Forschungsverbundes Energiewende.
Gemeinsam mit seinem Kollegen Andreas Knie wurde er 2021
mit dem Bertha-und-Carl-Benz-Preis der Stadt Mannheim
ausgezeichnet.
Diess-Forderungen: “Die Mobilitätswende ist kein Verliererthema mehr”
Mit 10 Forderungen zur Nachhaltigkeit sorgt VW-Chef Diess für Aufsehen. Nur Kalkül oder wirklich hilfreich? Simon Pausch von mobility.talk fragte Weert Canzler vom Wissenschaftszentrum Berlin.
Am Tag nach der Bundestagswahl loggt sich VW-Konzernvorstand Herbert Diess bei Twitter ein. In dem sozialen Netzwerk setzte der Wirtschaftskapitän 11 Posts hintereinander ab. Ein einleitendes, in dem er von der kommenden Bundesregierung ein klares Bekenntnis zu ökologischer Nachhaltigkeit und Klimaschutz verlangte. Und zehn Forderungen, wie dies nach seiner Einschätzung umzusetzen sei.
Einige seiner Punkte hatte Diess bereits bei einer viel beachteten Rede auf der IAA Mobility in München proklamiert. Mit seinen Twitter-Posts wirft er vor einer größeren Öffentlichkeit die Frage auf: Ist Deutschlands mächtigster Automanager grüner als Teile des Wahlprogramms der Grünen? Oder hat er vor allem seine Unternehmensziele im Blick? Geht es ihm am Ende gar nicht um nachhaltige Mobilität, sondern um die Absatzzahlen von Volkswagen? mobility.talk hat die Forderungen mit Dr. Weert Canzler, Mobilitätsforscher am Wissenschaftszentrum Berlin, besprochen und ihn nach seiner Meinung gefragt.
Dr. Canzler, VW-Vorstandschef Herbert Diess hat nach der Bundestagswahl zehn Forderungen zu ökologischer Nachhaltigkeit in der Mobilität aufgestellt. Gehen Sie da mit?
Prinzipiell finde ich es sehr begrüßenswert, dass sich der Vorstandsvorsitzende des größten Automobil-Konzerns so positioniert. Lange Zeit hatte man ja das Gefühl, dass die Autokonzerne vor allem um sich selber kreisen. Deswegen tut es gut zu sehen, dass es zumindest im Fall von Herrn Diess anders ist.
Einer der Vorwürfe lautet, dass es ihm weniger um ökologische Nachhaltigkeit als darum geht, Produkte von Volkswagen zu promoten. Lassen Sie uns direkt mit seiner ersten Forderung einsteigen. Ein CO2-Preis von 65 Euro in 2024 – ist das eine richtige Forderung?
Wir müssen jetzt nicht über den einzelnen Euro diskutieren. Aber die dahinterstehende Forderung, unter anderem Autos mit Verbrennermotor stärker zu bepreisen, halte ich für absolut begrüßenswert. Es fördert die Verbreitung von Elektromobilität. Das ist ehrlich gesagt nicht nur im Interesse von Volkswagen, sondern auch im Interesse der Verkehrswende. Wir brauchen eine Antriebswende hin zur Elektromobilität, und zwar schneller als bislang. Und wir brauchen natürlich eine Neuverteilung des Raumes und mehr Alternativen zum Auto. Darüber spricht Diess weniger – aus nachvollziehbaren Gründen.
Er und Volkswagen wollen möglichst viele Elektroautos verkaufen.
Genau, das finde ich auch legitim. Wie gesagt: In puncto Antriebswende gehe ich da mit. Und wir müssen uns auch klar machen, dass Autos ein wichtiger Teil der Verkehrswende sein werden, vor allem im ländlichen Raum. Aber: Die Autos müssen insgesamt weniger werden und vor allem müssen sie möglichst schnell elektrisch fahren.
Eine von Diess‘ Forderungen dreht sich um die Förderung elektrischer Dienstwagen, eine um die Kaufprämie von Elektroautos.
Ich finde, wir brauchen nicht unbedingt eine Debatte darüber, welche Dienstwagen gefördert werden. Sondern, welche Alternativen es zu Dienstwagen gibt. Stichwort Mobilitätsbudget. Das Auto ist seit Jahrzehnten mit mehr Privilegien ausgestattet worden als jeder andere Verkehrsbereich. Dies gilt es nun, wieder zurückzudrehen. Wir müssen den Raum des Autos beschneiden und Alternativen wie den öffentlichen Verkehr, das Fahrrad etc. stärken.
Was hätte auf Ihrer Wunschliste für die neue Bundesregierung ganz oben gestanden?
Der erste Satz wäre gewesen: „Wir müssen den Verkehrsraum neu verteilen.“ Das ist allerdings in erster Linie eine kommunale Angelegenheit. Die Bundespolitik kann dafür nur den gesetzlichen Rahmen geben.
Was meinen Sie damit?
Das aktuelle Verkehrsrecht braucht dringend eine Reform. Alles ist auf die Förderung des Autos ausgelegt, der öffentliche Verkehr ist quasi das, was übrig bleibt. Die Kommunen müssen in die Lage versetzt werden, Autostraßen zum Beispiel in Fahrradstraßen umzuwandeln, wenn sie es für sinnvoll halten. Das können sie im Moment noch nicht. Das ist völlig absurd.
Also fordern Sie keine konkreten Maßnahmen im Sinne von CO2-Preisen oder Innovationsprämien, sondern viel mehr einen neuen gesetzlichen Rahmen für den Verkehr?
Die Bundesgesetzgebung muss den Weg frei machen und den Kommunen Handlungsspielraum geben. Damit verbunden ist natürlich die Hoffnung, dass die Kommunen diesen Freiraum wahrnehmen.
Wie weit sind denn die Kommunen diesbezüglich?
Es gibt Kommunen, die wesentlich progressiver unterwegs sind als die vergangenen Bundes-Verkehrsminister. Die Kommunalwahlen der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass man mit einer zukunftsgerichteten Verkehrspolitik Wahlen gewinnen kann, nehmen Sie nur Beispiele wie Hannover und Bonn oder international Wien und Helsinki. Dort hat sich gezeigt: Die Mobilitätswende ist kein Verliererthema mehr.
Warum gelingt das nicht überall?
Nehmen wir das Beispiel Berlin. Dort macht der motorisierte Individualverkehr nicht mal ein Drittel der Wege aus, nimmt aber zwei Drittel des Verkehrsraums ein. Dort müssen massiv Parkplätze zurückgebaut werden. Es braucht meiner Meinung nach auch eine City-Maut, um die Zahl der fahrenden und parkenden Autos im Innenstadt-Bereich zu reduzieren. Um solche Maßnahmen umsetzen zu können, müssen die Kommunen finanziell und politisch entsprechend ausgestattet sein. Vielerorts gibt es gute Ideen. Allein: Die Umsetzung scheitert an der fehlenden Rechtssicherheit. Deswegen trauen sich viele Kommunen nicht.
Wie bitte?
Jede Umwandlung einer Straße in eine Fahrradstraße ist nach herrschendem Recht extrem kompliziert und muss juristisch wasserdicht begründet werden. Unsere Verkehrsgesetzgebung ist nach den Prinzipien Sicherheit und Verkehrsfluss ausgerichtet. Das sind die entscheidenden Punkte. Sobald eine Kommune etwas unternimmt, was den Verkehrsfluss, wohlgemerkt der Autos, behindert, muss sie mit Klagen rechnen. Das trauen sich natürlich die wenigsten Verkehrsplaner. Wer wird schon gern verklagt?
Es gilt Vorfahrt für den Autoverkehr.
Das hat sich über Jahrzehnte manifestiert. Es ist nicht möglich zu sagen: Eine Kommune will den Fahrradverkehr stärken und geht in Vorleistung. Nach dem Motto: Wer Fahrradstraßen baut, erntet Fahrradverkehr, wer normale Straßen baut, erntet Verkehr. Diese Gründe können im Sinne des Verkehrsrechts nicht geltend gemacht werden, weil immer mit der Behinderung des Autoverkehrs dagegen argumentiert werden kann. Meine große Hoffnung ist, dass die neue Bundesregierung das ändert und den Kommunen mehr Spielraum und mehr Rechtssicherheit gibt. Das Beispiel Helsinki zeigt, wie es funktioniert.
Was ist in Helsinki passiert?
Dort wurde vor zwei Jahren konsequent der Verkehr beruhigt. Überall gilt Tempo 30, auf den Straßen liegen Schwellen, über die man nur langsam fahren kann. Seitdem hat es meines Wissens keinen einzigen Verkehrstoten mehr gegeben. Solche Maßnahmen können deutsche Kommunen bislang nicht einfach so ergreifen.
Das Interview ist im Original nachzulesen unter mobility-talk.com
1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort
Herr Canzler hat vollkommen recht! Nur beim letzten Punkt habe ich den Eindruck, dass sich die Autoindustrie auf diese geschwindigkeitsabschreckenden Schwellen technisch schon so gut eingestellt hat, dass die Dinger einen Autofahrer gar nicht mehr jucken müssen. Die reduzieren teilweise an diesen Stellen nicht mal mehr ihr Tempo! Möglicherweise wird selbst die Forschung an sowas staatlich subventioniert :-/