Abgehängt auf beiden Seiten: VW und die Aktionscamper

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Ein Beitrag von Anke Borcherding und Timo Daum

 

Anke Borcherding ist wissen­schaft­liche Mit­arbeiterin am
Wissen­schafts­zentrum Berlin für Sozial­forschung (WZB).
Sie beschäftigt sich theoretisch und vor allem praktisch
mit Mobilitäts­projekten.

 

Timo Daum ist ebenfalls wissen­schaft­licher Mit­arbeiter
am WZB. Der Physiker, Hochschul­lehrer
und Sach­buch­autor
erhielt 2018 den Preis “Das politische Buch” der
Friedrich-Ebert-Stiftung für sein Buch “Das Kapital sind wir.
Zur Kritik der digitalen Ökonomie”.

 

 


Abgehängt auf beiden Seiten: VW und die Aktionscamper

ICEs fahren an Wolfsburg vorbei, doch auch beiderseits der Gleise geht es rückschrittlich zu. VW baut die Autos von gestern, und ein Protestcamp will den alten ÖPNV zurück. So oder so wird das keine Verkehrswende.

Eine Fahrt mit der Deutschen Bahn von Berlin nach Wolfsburg gleicht aktuell einer Fahrt in die Vergangenheit. Nicht nur aufgrund der Geschwindigkeit. Da ging sogar die Reise zu DDR-Zeiten von West-Berlin mit der Reichsbahn schneller. Nein, Wolfsburg ist völlig abgehängt. Nicht nur bahntechnisch, auch rechts und links der Bahnschienen. Auf der einen Seite werden Autos gebaut, als gäbe es keine Verkehrswende und keinen Klimawandel.

Auf der anderen Seite ein Camp von Aktivist:innen für die Verkehrswende, für den Umstieg auf Busse und Bahnen. Beide sitzen in der Vergangenheit – und wollen es nicht merken. Eine Führung durch Europas größtes Automobilwerk, die Grundsteinlegung erfolgte bereits 1938 durch Adolf Hitler. Das Fahrzeug, das die Besucher:innen auf Anhängern durch die Hallen zieht: ein umgebauter Golf mit Verbrennungsmotor. Das Publikum merkt das an – die Reaktion: “Wir sind gerade in der Transformation.” Wir schreiben das Jahr 2023.

Auch in der Produktion werden ausschließlich Autos mit Verbrennungsmotor präsentiert. Denn bis dato überlässt man bei VW die heimische Elektroproduktion dem ostdeutschen Standort Zwickau. Im Herbst allerdings fängt auch in Wolfsburg das E‑Zeitalter an, dann soll hier der überarbeitete ID 3 vom Band rollen. Wir schreiben das Jahr 2023. Etwas verschlafen wirkt – trotz des beeindruckenden Roboter-Balletts in der Karosseriefertigung – die ganze Veranstaltung: Die Produktion läuft derzeit nur mit halber Kraft – es fehlen Computerchips.

Digitalisierung und Software sind generell noch ein Problem für den Autobauer. Bei der VW-Softwareabteilung Cariad wurden gerade drei Vorstände entlassen. Und Weshare, die Tochter für flexibles elektrisches Carsharing, hat man gerade verkauft. Zu hören ist viel über Baureihen, Fachbegriffe werden erläutert: “Falzen ist das maßgenaue Übereinanderlegen von Bauteilen.” Deutsche Ingenieurskunst at its best! Und alle wissen, der derzeitige Technologieschub findet woanders statt. In Grünheide bei Berlin und in China.

Was lange Zeit das Erfolgsrezept dieser Industrie war, formuliert der Werksführer so: “Du versuchst dich halt immer zu steigern …” Blöd nur, wenn sich die gesamte Unternehmung technologisch auf dem Holzweg befindet, was den Antrieb angeht, und gesellschaftlich auf dem Holzweg, was das Produkt Auto insgesamt betrifft.

Zwei rückwärtsgewandte Welten

Auf der anderen Seite der Schienen sieht es nicht besser aus. Auf einer Wiese haben Aktivist:innen ein Verkehrswendecamp organisiert, um “gemeinsam Ideen für eine grundlegende sozial-ökologische Verkehrswende zu diskutieren und unseren Protest gegen die Dominanz des Autos auf die Straße zu tragen”. Anlass ist die Aktionärsversammlung von VW.

Vor allem junge Menschen erklären die Autostadt zur Verkehrswendestadt und wollen ins Gespräch kommen. Mit VW, dem Betriebsrat, mit den Wolfsburger:innen und Besucher:innen. Die Resonanz ist eher gering. Im Bemühen, dem alten Golf etwas entgegenzusetzen, bleibt man selbst in der Geschichte stecken und feiert einen ÖPNV, der vielleicht zur besten VW-Zeit einen Sinn hatte: den Bus, den Rufbus als kollektives Transportmittel – und wer den Bus nicht vor der Nase hat, fährt mit dem Fahrrad zur Haltestelle. Ebenso wie das Auto – egal ob Verbrenner oder elektrisch angetrieben – werden Handy, Apps oder digitale Mobilität abgelehnt.

Verkehrswende als Rückfahrt in lange überholte Zeiten, als es das Auto noch nicht gab und der Bus eine Problemlösung sein konnte, wenn man es vorher mit dem Rad zur Haltestelle schaffte, um wegzukommen. Bei jedem Wetter. Immer. Egal wie weit. Zwei uninspirierte, irgendwie reziprok konservative Welten tun sich in Wolfsburg auf. Und die Abneigung gegen das Elektroauto vereint beide Seiten – die fundamental-oppositionelle Verkehrswendebewegung gegen das Auto überhaupt auf der einen und ein struktureller Industrie-Konservatismus auf der anderen Seite, die beide auf einer Zeitreise in die Vergangenheit unterwegs sind.

Die einen schwören auf den ÖPNV, wie wir ihn kennen, und scheren alles über einen Kamm, die anderen wollen einfach so weiter machen: der VW Golf in der achten Ausgabe und sieben Millionen Currywürste pro Jahr in den Werkskantinen. Als könnte es ewig so weitergehen. Beide Seiten sind Lost in Transformation. Beide Seiten stecken knietief in der Vergangenheit fest. Vielleicht hält bald wenigstens der ICE wieder in Wolfsburg.

(Dieser Beitrag erschien ebenfalls in unserem Dossier #Antiblockiersystem auf klimareporter.de)

 


 

 

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