Einzelhandel im Irrtum: Das Auto bringt nicht den Umsatz
Ein Beitrag von Andreas Knie und Michael Hoffmann
Andreas Knie ist Forschungsgruppenleiter am WZB
und Professor für Soziologie an der TU Berlin.
Michael Hoffmann studiert Betriebswirtschaftslehre
in Göttingen und ist studentische Hilfskraft in der
Forschungsgruppe Digitale Mobilität des WZB. Er hat
einen Abschluss als Handelsfachwirt und vier Jahre
Erfahrung im stationären Einzelhandel.
Einzelhandel im Irrtum: Das Auto bringt nicht den Umsatz
Wer als Geschäft nicht genug Parkplätze anbieten kann, verliert Umsatz – seit vielen Jahren hält sich dieser Mythos hartnäckig, auch in Stadtplanung und Verkehrspolitik. Dabei haben sich die Verhältnisse umgekehrt: Heute gewinnen Läden dort mehr Kundschaft, wo weniger Autos fahren.
Heute wird in Berlin die Friedrichstraße (Foto oben) wieder komplett für den Autoverkehr freigegeben. Der neue CDU-SPD-Senat hat aus übergeordneten Interessen das Verfahren an sich gezogen und die Entscheidung des Stadtbezirks Mitte, eine Fußgängerzone einzurichten, kassiert. In der seit Jahren geführten Debatte hört man immer wieder, dass auch in den Innenstädten der Umsatz von Einzelhandelsgeschäften von den verfügbaren Stellflächen für die Autos der Kund:innen abhängt. Schaut man sich dagegen die internationale Forschungslage an, ergibt sich ein ganz anderes Bild.
Die vorliegenden Studien der letzten fünf Jahre zeigen eindeutig: Die Befürchtungen des Einzelhandels, bei fehlenden Stellflächen drohten Umsatzminderungen und die Innenstädte würden ohne Autoverkehr generell veröden, sind nicht gerechtfertigt. Im Gegenteil – weniger Autoverkehr bringt mehr Aufenthaltsqualität und die Umgebung wird für alle anderen Verkehrsteilnehmer:innen sicherer.
Autofreie Innenstädte sind keinesfalls menschenleer geworden, sondern laden bei entsprechender Gestaltung zu längerem Aufenthalt ein und auch die Besuchshäufigkeit nimmt zu. Parkplätze, die Platz machen für Fahrradabstellanlagen, sowie die Verfügbarkeit von sicheren Radwegen führen nicht nur zu mehr Fuß- und Radverkehr, sondern auch zu einem Kundenwachstum in den Innenstädten. Je lebendiger die Stadt ist, je vielfältiger auch die Bewegungsformen sind, umso größer der Umsatz im Einzelhandel.
In Innenstadtlagen sorgen Kund:innen, die mit dem Auto kommen – jedenfalls immer dort, wo es gemessen wurde – im Schnitt nur noch für zehn Prozent des Umsatzes. Die alte Regel, dass gerade diese Gruppe die “großen Scheine” im Laden lässt, wird durch die anderen Kundengruppen mehr als kompensiert. Im Folgenden dazu ein Ausschnitt aus der internationalen Studienwelt.
Eindeutige Studien aus den USA und Europa
Vor allen Dingen durch den Ausbau von Radwegen hat sich in den USA die Situation für den Einzelhandel deutlich verbessert, wie das Beispiel New York in der 9th Avenue und der Columbus Avenue zeigt. Geschützte Radwege und das Pflanzen von Bäumen führten nach den dort vorgenommenen Messungen zu durchschnittlich 12,5 Prozent höherem Umsatz gegenüber vergleichbaren Lagen. In Madrid hat die Umgestaltung der Einkaufsstraße Gran Vía zur Weihnachtszeit in eine Fußgängerzone zu 6,2 Prozent mehr Umsatz als im Vorjahr geführt.
Dass die Autofahrenden immer noch die umsatzstärksten Kunden sind, lässt sich mit Blick auf die Innenstadtlagen in Spanien nicht mehr behaupten. Radfahrende geben dort in verkehrsberuhigten Bereichen 40 Prozent mehr aus als Menschen mit Autos. Insgesamt verzeichnet etwa die spanische Stadt Pontevedra mit 80.000 Einwohner:innen und einer sehr stark autoreduzierten Innenstadt im Vergleich zu anderen Städten 7,5 Prozent mehr Umsatz und 17 Prozent weniger Ladenschließungen.
Auch im englischen Bristol und selbst in London sind die Ergebnisse eindeutig. Überall dort, wo der Autoverkehr reduziert wurde und mehr Fahrradfahrende und Fußgänger gezählt werden, wachsen die Einzelhandelsumsätze leicht, dabei steigt die Zahl der Kund:innen mit Fahrrad gegenüber denen mit Auto deutlich an. Die erschwerte Erreichbarkeit mit dem Auto – ein immer wieder gern genutztes Argument, um Beschränkungen zurückzuweisen – wird durch ein deutliches Plus an neuen Kund:innen mit Rädern mehr als kompensiert.
Studien aus Portland, Seattle, San Francisco, Memphis und Wien zeigen, dass immer dort, wo die Aufenthaltsqualität gut ist und Menschen sich wohlfühlen, mehr in den lokalen Geschäften ausgegeben wird. Dies gilt im Vergleich zur Kontrollgruppe generell für den Einzelhandel mit plus vier Prozent, aber besonders für die Gastronomie (plus 30 Prozent) und für Lebensmittelgeschäfte (plus 52 Prozent).
Damit steigen auch die Chancen für eine Stadtplanung, die mehr Raum für alle Aktivitäten planen kann und nicht immer wieder Stellflächen für Autos bereitstellen muss.
Die eigene Kundschaft nicht richtig eingeschätzt
Überhaupt ist der Einzelhandel selbst oft nicht in der Lage, die Verkehrsmittelwahl seiner Kundschaft einzuschätzen. Während die Händler:innen in der Regel sehr viel mit dem Kfz unterwegs sind – um Ware zu organisieren, die Disposition in Gang zu halten –, wird dieses Verhalten auch auf die Kundschaft übertragen.
Die im Jahr 2020 in Berlin eingerichteten “Pop‑up”-Fahrradwege führten zu erheblichen Protesten bei den Gewerbetreibenden, speziell am Kottbusser Damm in Kreuzberg. Dabei konnten Befragungen dokumentieren, dass an dieser Straße und ihrer Verlängerung, der Hermannstraße – übrigens zwei sehr dicht besiedelte Berliner Quartiere –, mehr als 93 Prozent der Kundschaft gar nicht mit dem Auto kommen.
Die Umsatzanteile verteilen sich auf Fußverkehr mit 61 Prozent, ÖPNV mit 17und Fahrrad mit 14 Prozent. Nur sieben Prozent kommen mit dem Auto und erbringen damit einen Umsatz von knapp neun Prozent.
Allgemein formuliert: Die Menschen, die in diesen Stadtteilen zu Fuß unterwegs sind, geben deutlich mehr Geld aus als alle anderen Verkehrsteilnehmenden. In Wien sind es bis zu 40 Prozent. Selbst in den sogenannten “Superblocks” in Barcelona ist nach der Umgestaltung der Quartiere mit Zugangssperren für Autos der Umsatz mit 17 Prozent deutlich gestiegen. Und auch in den Städten, in denen bereits seit vielen Jahren der Autoverkehr zurückgegangen ist – wie in Amsterdam –, zeigen sich deutliche Umsatzzuwächse.
Überall dort, wo Erhebungen in Innenstadtlagen und Quartieren unternommen wurden, entwickelt sich die Situation für den Einzelhandel deutlich positiver, weil die Fußgänger:innen und die Fahrradfahrenden einfach mehr kaufen. Dies auch deshalb, weil sie öfter kommen als die Autofahrenden.
Geht es am Ende gar nicht um den Einzelhandel?
Relativierend muss festgehalten werden, dass sich dieser Literaturüberblick allein auf die Innenstädte bezieht. Wer in Deutschland, in Europa, in großen Teilen der Welt die Kernstädte verlässt, wird weiter mit dem dominanten Bild der Shoppingmalls am Rand der Städte konfrontiert, die nur mit dem Auto funktionieren und die mutmaßlich auch immer noch den Löwenanteil des Einzelhandelsumsatzes ausmachen.
Wenn man sich aber die Friedrichstraße oder den Kottbusser Damm in Berlin anschaut, dann ergibt sich ein anderes Bild. Der Zusammenhang zwischen einer innerstädtischen Verkehrsberuhigung mit weniger Autos und dafür mehr Fahrrad, Füßen und ÖPNV und mehr Umsatz im Einzelhandel ist in den internationalen Studien ganz eindeutig.
Dabei entstand die Mehrzahl der Studien noch vor der Pandemie. Mittlerweile arbeitet rund ein Viertel aller Beschäftigten örtlich und zeitlich flexibel und ist noch stärker lokal mit anderen Verkehrsmitteln unterwegs als mit dem Auto. Der Anteil der virtuellen Mobilität, also die Nutzung von digitalen Medien für Arbeit, Privates und zum Einkaufen, hat sich nochmals deutlich erhöht.
Umso dringlicher erscheint es, für die Innenstädte neue Belebungsmöglichkeiten zu finden. Vor dem Hintergrund der Befunde gilt es vor allen Dingen die Verbandsvertreter:innen mit der Frage zu konfrontieren, warum immer wieder die Autofahrenden statt der umsatzbringenden Kund:innen geschützt und verteidigt werden. Denn auch die Alltagserfahrung zeigt: Dort, wo es lebendig ist, wo Platz für alle ist, dort, wo kein tosender Autoverkehr stört, wird mehr Geld ausgegeben.
Stattdessen hat man den Eindruck, dass die scheinbaren Interessen des Einzelhandels als Geisel zur Absicherung von ganz anderen Interessen herhalten müssen, nämlich dem Auto auch in Zukunft überall – selbst mitten in der Stadt – Vorrang einzuräumen. Der Leipziger Oberbürgermeister und Städtetags-Vizepräsident Burkhard Jung hat den Satz geprägt, der eine neue Ära der Stadtgestaltung in Deutschland einleitet: “Wir machen die Stadt für Menschen – und die gehen zu Fuß.”
Die Gründe dafür, warum in Berlin die Friedrichstraße wieder komplett für den Autoverkehr geöffnet wird, die hat der neue Berliner Senat ganz exklusiv für sich allein.
(Dieser Beitrag erschien ebenfalls in unserem Dossier #Antiblockiersystem auf klimareporter.de)