Madrid PopUp-Außengastronomie – Verkehrswende einmal anders.
Ein Beitrag von Timo Daum
Teil 2
Während in Berlin zu Pandemiezeiten neue Radwege “aufpoppten”,
poppen in Madrid und Barcelona hauptsächlich Terrazas auf.
Timo Daum ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe
Digitale Mobilität und hat um die Jahrtausendwende zwei Jahre
in Madrid gelebt. Er berichtet von einer kleinen Revolution in
seiner Lieblingsstadt, in der bis vor kurzem Radfahrerinnen als
Kuriosum galten und mitternächtliche Staus in der Innenstadt
zur Normalität gehörten, gar als Markenzeichen des Lifestyles
der Madrilenen gepriesen wurden.
Pop-Up Infrastrukturen/ pandemiesichere Infrastruktur
2020 war das Jahr der Pop-up-Radwege, also des kurzfristigen Aufbaus von Fahrradinfrastrukturen. Weniger Autoverkehr, mehr Rad- und Fußverkehr. Abstandsregelungen und weitere epidemiologische Maßnahmen eröffneten in vielen Städten die unverhoffte Chance, Aspekte der Verkehrswende voranzutreiben. Neue Rationalitäten stellten sich ein, und notorische Debatten und Konfliktlinien wurden durcheinandergewirbelt. Bogotá preschte voran und stattete über 100 Kilometer Straßen mit temporären Radwegen aus. Städte wie New York, Wien, Paris, Mexiko-Stadt und Vancouver folgten.
Tactical urbanism:
Das Konzept, schnell durchführbare oder temporäre Maßnahmen im öffentlichen Straßenraum umzusetzen, ist jedoch schon älter. Vorläufer gehen zurück in das Paris der 68er. Unter dem Namen tactical urbanism geht das Konzept von, kostengünstigen und vorübergehenden Änderungen der gebauten Umwelt auf den New Yorker Stadtplaner Mike Lyndon zurück. Stadtverwaltungen wie die von Barcelona greifen seit Jahren auf „guerilla urbanism“ Methoden zurück. In ihrem Bestreben, Lebensqualität in Quartieren zu verbessern und als Lösungsmaßnahme, „die Stadt zu reparieren“.
Die Pandemie in Spanien
Spanien hat schwer gelitten unter der Pandemie. In der ersten Phase waren wochenlange Ausgangssperren zu ertragen. Das Land hatte den medizinischen Notstand ausgerufen. Nach einer zeitweiligen Entspannung der Situation im Sommer wurden regionalen und lokalen Verwaltungen mehr Spielräume bei der Anordnung von Einschränkungen gewährt. Ein Stufenmodell wurde eingeführt, das flexibel auf die jeweilige Infektionssituation abgestimmt ist. Im Gegensatz zu Deutschland wurde die Gastronomie länger offen gehalten, dafür die Mobilität stärker eingeschränkt, z.B. der Verkehr zwischen Gemeinden.
Pop-up-Urbanismus – spanish style.
Die Gastronomie der Hauptstadt leidet trotzdem unter den pandemiebedingten Einschränkungen. Durch die Abstandsregelungen sind die verfügbaren Plätze im Schnitt auf die Hälfte geschrumpft, Umsatzeinbußen die Folge. Seit Beginn der Pandemie hat Madrid bis Ende Dezember 2020 306 Gastronomiebetrieben und Geschäften erlaubt, zusätzliche Tische und Stühle im Freien aufzustellen. Spitzenreiter ist der Bezirk Chamberí mit 115 Lokalen, die von der Regelung profitierten. Salamanca (57), Arganzuela (40), Chamartín (28) und Retiro (24) sind die Bezirke, die in großer Entfernung folgen. Die Innenstadtbezirke im Zentrum Madrids bleiben außen vor, dort gibt es seit der Einführung von Madrid Central gar keine Parkplätze mehr, außer für Lieferanten und Anwohner:innen (siehe Teil 1).
Doch woher kommt der neue geschaffene Platz für eine Lieblingsbeschäftigung der Madriderinnen und Madrider – dem Ausgehen in Bars und Kneipen?
Parkplätze zu Außenterrassen
Auf der Suche nach zusätzlichem Platz für die Außengastronomie wurde man im öffentlichen Straßenraum fündig: Parkplätze.
Allein im Bezirk Chamberí wurden 370 Autostellplätze umgewidmet – auf ihnen können jetzt Wein, Bier und Tapas konsumiert werden. Die Cervecería Yoliana in Villaverde hat ganze 103 qm Fläche kostenlos zur Verfügung gestellt, seit die Erlaubnis eintrudelte. Seit im Frühjahr die entsprechende städtische Richtlinie beschlossen wurde, haben sich die Bezirksverwaltungen mächtig ins Zeug gelegt, um aus den Pop-up-Freisitzen eine Erfolgsgeschichte zu machen und den Madriderinnen und Madridern ein Stück Lebensqualität zurückzugeben, und gleichzeig der Gastronomie unter die Arme zu greifen.
Eine unglaubliche Anstrengung der städtischen Bediensteten,
so die für Chamberí zuständige Koordinatorin – ein voller Erfolg, verbringen doch die Spanierinnen und Spanier ihr Leben am Liebsten draußen und bei Tapas und Wein!
Der ruhende Verkehr
Seit Jahren predigt die Verkehrswissenschaft, dass der ruhende Verkehr der Schlüssel für eine erfolgreiche Verdrängung des Pkw aus den Städten ist. Mindestens so wichtig, wie mehr Radwege, Tempobeschränkungen und dergleichen, ist die Reduktion und Bepreisung von Parkflächen. Die Pandemie hat – wie schon in Bogota, Mailand und Berlin – zu neuen verkehrspolitischen Ad-Hoc-Konstellationen geführt. Die üblichen Fronten, autobesitzende Anwohner:innen gegen Verkehrswendeaktivisten, ist dabei kein Thema mehr. Proteste von Anwohner:innen, die ihren Parkplätzen nachtrauerten und den Politikern unterstellten, sie seien nur auf Freigetränke aus, blieben dabei anekdotisch.
FAZIT: systemrelevante Außengastronomie
Die Pandemie hat auch in den Madrider innenstadtnahen Bezirken die Fronten verschoben, plötzlich sind Parkplätze für Autos nicht mehr so wichtig, Platz für gastronomische Angebote im Freien jedoch systemrelevant. Und die Gastronomie, wie auch der Einzelhandel, die meist auf den Seiten der Gegner von Verkehrsberuhigung zu finden sind, sind bei diesen Maßnahmen verständlicherweise auf der anderen Seite anzutreffen.
Weiterführende Links:
- Emily Matchar (2015), Tactical Urbanists Are Improving Cities, One Rogue Fix at a Time. In: Smithsonion Magazine, April 2015.
- Stephen Burgen (2020), Two-way street: how Barcelona is democratising public space. In: The Guardian, 22 Dezember 2020.
- Leitfaden zu den Beschränkungen und Maßnahmen gegen das Coronavirus durch die autonome Gemeinde und Gemeinde.
- Diego Casado (2020), Aluvión de permisos para instalar terrazas sobre aparcamientos en Madrid. in: ElDiario.es, 22. Dezember 2020.
- Timo Daum (2021), Madrid Central – eine Erfolgsgeschichte? Teil 1, Blogbeitrag vom 17. Februar 2021.