Gerechtigkeitsperspektiven müssen ins Zentrum der Debatte um das Autonome Fahren!

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Ein Beitrag von Sarah George

Gerechtigkeitsperspektiven müssen ins Zentrum der Debatte um das Autonome Fahren !

Ein Plädoyer für ein anderes Mobilitätssystem

 

 

Sarah George ist studentische Hilfskraft in der Forschungsgruppe
Digitale Mobilität und interessiert sich vor allem für Mobilität
als Teilhabe- und Machtressource. Verkehrspolitik wird jedoch eher
von Männern dominiert. Es geht um technischen Fortschritt, neue
Autobahnen und die deutsche Liebe zum Automobil. Für uns hat sie
ein paar gute Argumente zusammengetragen, warum dennoch gerade
eine feministische Perspektive und gleichzeitig das Thema
Gerechtigkeit die Debatte um das Autonome Fahren bestimmen sollten.

 

 

Anfang Februar hat Verkehrsminister Andreas Scheuer den neuen Gesetzesentwurf zum Autonomen Fahren vorgelegt, um Kraftfahrzeuge mit autonomer Fahrfunktion in den öffentlichen Straßenverkehr zu integrieren. Diese Regelung soll Deutschland weltweit zum ersten Land machen, in dem autonome Autos ab Level 4 im Regelbetrieb unterwegs sein werden. Doch es gab von allen Seiten viel Kritik an der Gesetzesvorlage: Haftungs- und Datenschutzfragen seien nicht geklärt, wie die physische Infrastruktur auf die autonomen Autos vorbereitet werden soll bleibt offen und auch einige technische Aspekte sind noch nicht ganz ausgereift.

 

Dabei ist es oft die deutsche Liebe zum privaten Automobil, die die Skepsis um das autonome Fahren prägt. Über die Hälfte der Befragten einer repräsentativen Umfrage von AutoScout24 stehen dem Autonomen Fahren eher kritisch gegenüber, und das vor allem, weil sie lieber selbst fahren wollen. Das Autofahren ist „den Deutschen“ so in ihre Identität eingeschrieben, dass man es auf keinen Fall aufgeben und schon gar nicht an eine Maschine auslagern will. Dabei ist die Technik längst da und es obliegt vornehmlich politischem Entscheidungswillen, wie unser Mobilitätssystem in Zukunft ausgestaltet sein könnte. Mit Blick auf die Klimaschutzziele ist klar, dass sich unser Verkehrssystem verändern muss. Autofahrer:innen müssen Privilegien abgeben und Verkehrsflächen neu verteilt werden. Hier sind ein paar Gründe, warum gerade das Autonome Fahren mehr Gerechtigkeit in unser Mobilitätssystem bringen kann:

 

Sicherheit als elementare Voraussetzung gleichberechtigter Teilhabe

Über 2,5 Millionen Verkehrsunfälle, knapp 400.000 Verletzte und über 3.000 Verkehrstote verzeichnen Deutschlands Statistiken jedes Jahr. Davon werden viele durch Raserei, Alkoholverstöße und unzulässiges Überholen verursacht, überwiegend von Männern. Gleichzeitig sind 2/3 der Opfer aller Abbiegeunfälle Frauen. Tempolimits, Abbiegeassistenten und andere Stufen der Automatisierung scheitern regelmäßig am politischen Willen. Dabei wird in Kauf genommen, dass für einige Teile unserer Bevölkerung Mobilität zur Gefahr wird, soll es doch eigentlich ein Grundrecht sein. Knapp 90 Prozent aller Unfälle sind auf menschliches Versagen zurückzuführen. Bereits der heutige Stand der Technik des Autonomen sowie Automatisierten Fahrens könnte durch die schnelleren Reaktionszeiten von Assistenzsystemen maßgeblich zu erhöhter Sicherheit beitragen. Eine Studie der TRL ergab, dass bereits bei einer relativ geringen Marktdurchdringung von 8-19 Prozent Autonomer Fahrzeuge des gesamten Fuhrparks mehr als ein Fünftel Prozent aller Unfälle verhindert werden könnten.

Auch der derzeitige Geschwindigkeitsbereich des Autonomen Fahrens von 20-30 km/h trägt zu erhöhter Sicherheit und verbesserter Mobilitätsqualität bei. Die Anpassung der innerstädtischen Geschwindigkeit des motorisierten Verkehrs an die Bedürfnisse und Geschwindigkeiten von Fußgänger:innen und Radfahrer:innen ermöglicht es allen Verkehrsteilnehmer:innen, am Straßenverkehr teilhaben zu können. Die automobile Perspektive des „schneller, höher, weiter“ ist nicht mehr mit nachhaltigen und inklusiven Ansprüchen an unser Mobilitätssystem zu vereinbaren und eine gerechte Ausgestaltung der öffentlichen Infrastruktur sollte eigentlich im Zentrum der Kritik stehen.

Den Öffentlichen Verkehr ergänzen und flexibilisieren

Um eine neue Form der Massenmotorisierung zu verhindern, sollten jedoch nicht allein die technischen Aspekte im Fokus stehen. Die Debatte um das Autonome Fahren muss politisch gesteuert werden – und zwar unter Gerechtigkeits-Aspekten. Das übergeordnete verkehrspolitische Ziel der Fahrzeugautomatisierung muss in der Integration des Öffentlichen Verkehrs liegen. Durch eine gemeinschaftliche Nutzung, beispielsweise durch autonome, bedarfsgerechte Rufbusse oder automatisiertes Ridepooling, können die Gesamtfahrzeugkilometer und somit auch insgesamt der Flächen- und Energieverbrauch gesenkt werden.

Besonders während der Pandemie hat sich gezeigt, wie unattraktiv der ÖPNV ausgestaltet ist. Aber auch schon vorher waren Bus und Bahn nicht für alle Bevölkerungsgruppen zugänglich (beispielsweise für Menschen mit Behinderung). Dabei sollte das Autonome Fahren nicht in Konkurrenz zum ÖPNV, sondern als kollaborative Ergänzung maßgeblich zur letzten Meile beziehungsweise als Zubringer-System verstanden werden. Sich zunehmend ausdifferenzierende und individualisierende Mobilitätsbedürfnisse haben eine gemeinhin raumgreifende und entfernungsintensive Gesellschaft entstehen lassen. Multilokales Wohnen, Pendeln, Freund:innenschaften an weit entfernten Orten pflegen sowie der Anspruch schnell, bequem, zu jeder Zeit und von jedem Ort voranzukommen werden zur Normalität. Allein der ÖPNV, wie er aktuell ausgestaltet ist, kann diesen Bedürfnissen nicht nachkommen. Das Autonome Fahren ermöglicht es durch den bedarfsorientierteren Einsatz von Fahrzeugkapazitäten möglichst flexibel und verlässlich mobil zu sein, um dem Bedarf an „Eigenraum und Eigenzeit“ (Knie 1997) nachzukommen, bei gleichzeitiger kollektiver Nutzbarkeit.

Mobilität als Daseinsfürsorge für alle Menschen und Raumstrukturen

Ebenso kann das Autonome Fahren im ländlichen und suburbanen Raum eine relevante Verkehrsmittelalternative zum privaten Pkw darstellen. Simulationen zeigen, dass auf dem Land bis zu elf private Fahrzeuge ersetzt werden könnten. Auch in Schwachlastzeiten kann ein autonomes Zubringer-System zum ÖPNV die Abhängigkeit vom privaten Pkw auf dem Land reduzieren.

Eine intelligente, digitale Vernetzung ermöglicht es, Fahrten effektiv zu bündeln, den Besetzungsgrad zu erhöhen, grundlegend Verkehrsaufkommen sowie Parkraum zu reduzieren. Sie führt damit zu mehr Flächengerechtigkeit. Gleichzeitig könnten insgesamt mehr, aber vor allem auch mobilitätseingeschränkte Personen, wie Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung, Kinder, einkommensschwache Personen oder ältere Menschen, in das Mobilitätssystem integriert werden. Ein für alle zugängliches Mobilitätssystem erhöht gesellschaftliche Teilhabe und kommt damit dem Anspruch an Mobilität als Daseinsvorsorge nach. Das Fahrer:innenlose-Fahren senkt außerdem die Kosten für die Nutzer:innen als auch für die Anbieter:innen und erlaubt es damit neue Bediengebiete zu erschließen.

Der weitaus größte Teil der Schadstoffe werden vom Straßenverkehr verursacht. Seit 1994 steigen der CO2-Ausstoß des Verkehrs sowie die gefahrenen Personenkilometer kontinuierlich an. Durch den höheren Besetzungsgrad der Personenbeförderung sowie einer möglichen Integration des Wirtschaftsverkehrs in die automatisierten Leerfahrten könnte das Autonome Fahren nicht nur den Emissionsausstoß senken, sondern auch die Überbelastung der Infrastruktur reduzieren.

Autonomes Fahren als nachhaltige, ökologische und sozial gerechte Alternative

Selbstverständlich braucht es auch gute Konzepte hinsichtlich der Datenschutzbedenken. Technische Standards sowie rechtliche Regulierungen müssen einen selbstbestimmten Umgang mit den Daten sicherstellen. Eine verantwortungsbewusste Datennutzung birgt allerdings auch Potenziale, um vor allem Intermodalität durch digitale Vernetzung und Kommunikation reibungslos und kollaborativ zu organisieren. Die Technologie darf nicht einer „autogerechten Stadt 2.0“ dienen und muss daher planerischen, politischen und gesellschaftlichen Rahmenvorgaben unterliegen. Die positiven Effekte werden allerdings nicht von alleine kommen und müssen mehr in das Zentrum der Debatte rücken. Die Vorteile stehen klar im Raum: Integration aller Bevölkerungsgruppen in das Mobilitätssystem, bessere Anbindung des suburbanen und ländlichen Raums, Reduktion von Emissionen, mehr Flächengerechtigkeit, kostengünstigere, komfortablere und flexiblere Angebotsstrukturen sowie erhöhte Sicherheit im Straßenverkehr.

Feministisch Denken und den privaten Pkw überwinden

 

Der private Pkw, der zu 90 Prozent der Zeit unbenutzt rumsteht, einen geringen Besetzungsgrad von durchschnittlich 1,1 Personen aufweist, maßgeblich zum Emissionsausstoß des Verkehrssektors beiträgt, ist nicht zukunftsfähig. Der Wissenschaftler Timo Daum setzt dem Beharren auf das eigene Auto die „Beifahrer:innenperspektive“ entgegen und macht deutlich, dass das selbst-Fahren „eine wahnhafte Verirrung, eine Männerphantasie zwischen Militär und brotherhood“ ist. Frauen – eben nicht-männliche Personen – geben dabei bereits den richtigen Impuls vor, nämlich öfter den ÖPNV zu nutzen, langsamer und verantwortungsbewusst zu fahren und Mobilität gemeinschaftlich zu organisieren. Das private Auto-Fahren gehört längst abgeschafft und das Autonome Fahren erlaubt endlich eine zukunftsfähige Alternative. Die Mobilitätspolitik darf also nicht von der längst überholten Perspektive des privaten Pkw dominiert werden und das Autonome Fahren sollte als ein wichtiges Instrument innerhalb der Mobilitätswende etabliert werden. Die technischen und rechtlichen Rahmenbedingungen müssen jetzt auch unter Gerechtigkeitsperspektiven betrachtet werden und Mobilität als Daseinsvorsorge ins Zentrum der Debatte rücken.

Um es abschließend mit Tocotronic zu sagen:

Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit.

 

Weiterführende Literatur:

 

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