Blackbox ÖV? Über (Un)Wissen in Zeiten der Pandemie
Franziska Zehl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der
Forschungsgruppe Digitale Mobilität und erforscht im Projekt
MOBICOR die Mobilität zu Zeiten der Corona-Pandemie.
Besonders interessiert Sie dabei die derzeitige Lage des
öffentlichen Verkehrs. Sie pendelt zwischen Würzburg/Bayern
und Berlin und erlebt so die Unterschiede in der Vielfältigkeit
und Bedeutung des öffentlichen Verkehrs in der Metropole Berlin
und der 128.000 Seelen Stadt Würzburg im direkten Vergleich.
Was wir wissen:
Der öffentliche Verkehr leidet
Wie schlecht es um den öffentlichen Verkehr (ÖV) zu Zeiten der Corona-Pandemie steht wurde bereits umfassend mit Hilfe des MOBICOR-Projekts dokumentiert. Die zwei repräsentativen Befragungen aus dem Frühjahr und Herbst 2020 zeigen tiefe Einbrüche in Verkehrsaufkommen und -leistung (Zehl, Weber 2020 sowie Follmer, Schelewsky 2020). Und auch mit Hilfe der App-basierten Trackingdaten lässt sich ein durchweg geringer ÖV-Anteil am Verkehrsmittelmix erkennen, der zu Lockdown-Zeiten besondere Tiefen erreicht.
Neben einem deutlichen Weniger an Menschen im öffentlichen Verkehr liefert ein kürzlich erschienener MOBICOR-Sonderbericht (WZB/infas 2021) weitere Einblicke in die derzeitige Rolle des ÖV. Die Analysen legen offen: nur wer keine Wahl hat nutzt zu Zeiten der Pandemie öffentliche Verkehrsmittel. Entlang des verfügbaren Nettoäquivalenzeinkommens betrachtet, wird so eine soziale Schieflage der ÖV-Nutzung sichtbar. Während der ÖV im Herbst 2020 nur 2 Prozent vom Verkehrsmittelmix der Vielverdienenden (über 2.200 €) ausmacht, wird im selben Zeitraum fast jeder zehnte Weg (9 Prozent) von Personen mit niedrigem Einkommen (bis 1.300 €) mit Bus oder Bahn zurückgelegt.
Genau wie die ÖV-Nutzung ist auch die Inanspruchnahme von Homeoffice sozial ungleich verteilt, so dass sich zeigt: die im ÖV verbliebenen, meist geringverdienenden Fahrgäste nutzen öffentliche Verkehrsmittel hauptsächlich noch aus beruflichen Gründen. Dementsprechend beginnen oder enden 58 Prozent der im Oktober/November 2020 getätigten ÖV-Wege im Nahverkehr an der Ausbildungs- bzw. Arbeitsstätte. Zum Vergleich: Im Corona-freien Oktober 2017 lag dieser Anteil noch bei 49 Prozent.
Busse und Bahnen werden während der Pandemie also vor allem von jenen genutzt, die weiterhin im Präsenzbetrieb arbeiten und für ihren Arbeitsweg auf den ÖV angewiesen sind. Angesichts dessen wirkt der Appell des ADAC (2021) „Fahrten mit dem ÖPNV, wenn möglich auf außerhalb der üblichen Stoßzeiten [zu legen]“ durchaus zynisch. Schließlich kann davon ausgegangen werden, dass Menschen, die nach wie vor nicht am heimischen Schreibtisch arbeiten (können), – wenn nicht anders vom Arbeitgeber ermöglicht – trotz der Pandemie starre Alltagsmuster und damit feste Startzeiten in ihren Arbeitstag haben. Für viele der übriggebliebenen ÖV-Nutzer*innen dürfte die Anregung, die Stoßzeiten im öffentlichen Verkehr zu meiden, also nicht ohne Weiteres umsetzbar sein.
Was wir nicht wissen:
Ist der ÖV Infektionsherd oder nicht?
Neben solchen Empfehlungen verlässt sich der Gesetzgeber bei der Nutzung von Bussen und Bahnen nach wie vor auf die allgemeinen Hygieneregeln: Abstand halten und Maske tragen, außerdem alle Türen zum Ein- und Ausstieg nutzen. Gebetsmühlenartig werden Fahrgäste in öffentlichen Verkehrsmitteln über Plakate, Aufkleber oder Durchsagen an die Einhaltung dieser Regeln erinnert.
Im Gegensatz dazu ist die Durchsetzung struktureller Änderungen im ÖV bislang ausgeblieben. Warum man sich von Seiten der Politik nicht an den ÖV als Stellschraube für konkretere Corona-Schutzmaßnahmen heranwagt, ist allerdings wenig verwunderlich. Schließlich fehlt nach wie vor eine wissenschaftlich fundierte Antwort auf die Frage, ob in Deutschland im öffentlichen Fern- und Nahverkehr eine erhöhte Ansteckungsgefahr mit dem Sars-Cov2-Virus besteht oder nicht.
Vereinzelte Untersuchungen wie die von Martin Kriegel und Anne Hartmann (2021) vom Hermann-Rietschel-Institut legen zwar nahe, dass das Ansteckungsrisiko unter Einhaltung der Maskenpflicht in Supermärkten sogar höher ist als im öffentlichen Personennahverkehr. Und auch eine kürzlich veröffentlichte Metaanalyse des Umweltmediziners Hans-Peter Hutter und Kollegen (2021), in welcher Ergebnisse von mehr als 100 internationalen Studien verglichen wurden, offenbart ein eher geringes Ansteckungsrisiko in Bussen und Bahnen.
Dennoch wurde hierzulande erst Mitte Februar und damit rund ein Jahr nach Beginn der Pandemie eine Studie der Charité Research Organisation ins Leben gerufen, die sich repräsentativ für Deutschland mit der Frage beschäftigt, wie es tatsächlich um das Risiko einer Infektion mit COVID-19 im öffentlichen Verkehr steht. Dass die wissenschaftliche Klärung dieser Frage erst anläuft, spiegelt nicht nur (wieder einmal) den geringen Stellenwert des öffentlichen Verkehrs in Deutschland wider.
Dei Tatsache, dass es bis heute keine geeignete Datenbasis zu den Kontakten sowie zu den Aufenthaltsdauern und damit verbundenen Infektionsrisiken im deutschen ÖV gibt, ist auch für den zukünftigen Umgang mit öffentlichen Verkehrsmitteln problematisch. Jegliche Überlegungen, ob und welche Schutzmaßnahmen es im öffentlichen Verkehr braucht, gleichen schließlich so lange einem höchstspekulativen Fischen im Trüben, bis die Frage nach einem Zusammenhang zwischen ÖV und Infektionsrisiko eindeutig geklärt ist.
Für viele gilt:
Jetzt erst recht kein ÖV
Die fehlende Datenbasis macht es aber nicht nur für den Gesetzgeber schwierig, gar unmöglich, zuverlässige Entscheidungen für die weitere Handhabung des ÖV in der Pandemie zu treffen. Dass das, was aus infektiologischer Sicht bei Fahrten im öffentlichen Verkehr passiert (oder eben nicht passiert), nach wie vor einer Blackbox gleicht, beeinflusst ohne Frage auch die potentiellen ÖV-Kund*innen. Das legen die im Rahmen des MOBICOR-Projekts durchgeführten qualitativen Interviews offen.
Bei einem Großteil der telefonisch Befragten ist die Angst vor Ansteckung mit dem Corona-Virus in öffentlichen Verkehrsmitteln in der Tat präsent. Diejenigen, die vor der Pandemie, wenn überhaupt, nur selten mit Bus oder Bahn fuhren, verfallen dabei besonders häufig in ein abweisendes Narrativ, das eine ‚jetzt erst recht kein ÖV‘-Haltung vermittelt. Die Befragten finden den ÖV seit Beginn der Pandemie ‚noch schrecklicher‘, bewerten ihn ‚noch negativer‘ und empfinden dessen Nutzung ‚noch unangenehmer‘, als ohne hin schon.
Leitsätze wie ‚safety first‘ oder ‚Gesundheit geht vor‘ werden als Gründe für die konsequente Meidung öffentlicher Verkehrsmittel genannt. Und auch die Vermutung einer weitgehenden Ignoranz von Mindestabstand und Maskenpflicht rechtfertigen für diese Befragten die Ablehnung öffentlicher Verkehrsmittel. Ganz nach dem Motto „es gibt immer welche, die sich nicht daranhalten“. Insgesamt legen die Interviews somit offen, dass das potentielle Ansteckungsrisiko in Bussen und Bahnen gerade den Menschen, die der ÖV auch vor der Pandemie schon nicht erreichen konnte, den letzten Grund zu liefern scheint, den öffentlichen Verkehrsmitteln nun endgültig den Rücken zu kehren.
Die Gretchenfrage in der Pandemie:
Wie hast du’s mit dem ÖV?
Aber auch unter Befragten, die vor der Pandemie noch zu den regelmäßigen Kund*innen des ÖV zählten, ist das Misstrauen groß. Nur ein kleiner Teil der Befragten relativiert die Ansteckungsgefahr im ÖV und zeigt sich davon überzeugt,
Ansteckung im ÖV spielt keine Rolle, ich denke nicht, dass die Ansteckungsmöglichkeiten in ÖV größer sind als im Supermarkt.
Deutlich mehr Befragte, die vor der Pandemie regelmäßig Busse und Bahnen nutzten, äußern die Angst, sich mit dem Sars-Cov2-Virus in öffentlichen Verkehrsmitteln anzustecken. Dass öffentliche Verkehrsmittel nicht mehr wie üblich genutzt werden, wird dabei entweder mit der subjektiven Überzeugung eines erhöhten Infektionsrisikos gerechtfertigt:
die Meidung des ÖV ist zurzeit glaube ich das Vernünftigste einfach aus Risikogründen.
Oder aber, es ist die bloße Unsicherheit über das Ansteckungsrisiko im öffentlichen Verkehr, welche dessen Meidung und Attraktivitätsverlust zur Folge hat. Diese kontroversen Aussagen bringen das nach wie vor bestehende Problem im ÖV auf den Punkt: ob zu Zeiten der Pandemie öffentliche Verkehrsmittel genutzt werden, hängt nicht nur von der persönlichen Lage und vorhandenen Alternativen, sondern auch von der individuellen Überzeugung über das Infektionsrisiko ab.
Dass die subjektive Vermutung über die Ansteckungsgefahr in öffentlichen Verkehrsmitteln deren Nutzung durch die Befragten bestimmt, sollte alarmieren und zeigt die Notwendigkeit objektiver, wissenschaftsbasierter Aufklärungsarbeit. Ohne diese fehlt schließlich nicht nur die Handlungsgrundlage für die Etablierung weiterer Corona-Schutzmaßnahmen im ÖV. Vielmehr bleiben die Fragen nach der Ansteckungsgefahr im und damit der Umgang mit dem ÖV auch im weiteren Verlauf der Pandemie unter vormaligen ÖV-Kund*innen das, was sie momentan zu sein scheinen: Glaubensfragen.
Was bislang in der öffentlichen Wahrnehmung untergeht:
(sorgenfreie) ÖV-Fahrten werden vermisst!
Dabei würde es sich für die Verkehrsbetriebe lohnen, wenn das Ansteckungsrisiko in Bussen und Bahnen geklärt und anschließend entweder mit dem Mythos ‚Infektionsherd ÖV‘ aufgeräumt oder mit Hilfe konkreter Corona-Schutzmaßnahmen auf die Angst der Menschen eingegangen wird. Denn die qualitativen Interviews bestätigen auch: die Menschen wollen zurück in den ÖV.
Vor allem Befragte, die vor der Pandemie täglich oder wöchentlich öffentliche Verkehrsmittel nutzten, wünschen sich unbeschwerte Fahrten in Bussen und Bahnen zurück. Diese waren vormals schließlich ein wichtiger Teil des eigenen multimodalen Verkehrsmittelmixes. Auch die Tatsache, dass Vorteile öffentlicher Verkehrsmittel wie lesen, arbeiten, entspannen und umweltfreundlich, schnell und ohne Stau von A nach B zu kommen derzeit nicht genossen werden können, wird von diesen Befragten bedauert. Darüber hinaus wird befürchtet, dass die Pandemie und konkreter die Angst vor Ansteckung im ÖV, nachhaltigen Schaden für die einst gute Beziehung zwischen öffentlichen Verkehrsmitteln und deren vormals regelmäßigen Kund*innen zur Folge haben könnte.
Ich hatte nie ein Problem mit dem ÖPNV und fahre eigentlich auch gerne Bahn, jetzt habe ich ein bisschen Sorge, dass ich mich da auch selbst ermahnen muss, diesen Verkehrsmitteln jetzt nicht komplett fremd zu werden.
Wird der Angst und Unsicherheit gegenüber Fahrten in öffentlichen Verkehrsmitteln also weiterhin nicht begegnet, ist zu befürchten, dass sich die Meidung von Bussen und Bahnen und der Umstieg auf alternative Verkehrsmittel selbst bei ursprünglich dem ÖV zugewandten Personen verfestigen. In diesem Zusammenhang sollte auch die Tatsache, dass in den Interviews eine Tendenz zu erkennen ist, den ÖV nach einer Impfung oder dann, wenn die Pandemie vorbei ist wieder nutzen zu wollen, die Verkehrsbetriebe nicht in Sicherheit wiegen, sondern alarmieren. Ist das Ende der Pandemie Voraussetzung für eine unbeschwerte Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, dürften Busse und Bahnen in den kommenden Monaten selbst von vormals treuen ÖV-Fahrgästen weiterhin gemieden werden.
Was es braucht:
Endlich den Abschied vom ‚weiter wie bisher‘
Weder unser Klima noch die Verkehrsbetriebe können es sich aber leisten, erst zum noch unbestimmbaren Ende der Pandemie wieder Zulauf im öffentlichen Verkehr zu erfahren. Das wird aber der Fall sein, wenn nicht bald vom ‚weiter wie bisher‘ Abschied genommen wird. Denn das wissen wir auch: Der vor-Corona Anteil von 15 Prozent öffentlicher Verkehrsmittel am Verkehrsmittelmix sollte zur Erreichung der Klimaziele eigentlich verdoppelt werden, er hat sich im Laufe der Pandemie aber stattdessen halbiert.
Die Corona-Krise wirkt somit als Brennglas, unter dem sich die Außenseiterrolle des ÖV unter den gegebenen Rahmenbedingungen immer weiter verstärkt. Statt der Pandemie die Schuld an den derzeitigen Missständen zu geben, sollte der ÖV einsehen, dass diese hausgemacht sind und er sie selbst seit Jahren am Leben hält. Viel zu lange pflegt der ÖV schon seine eigene Nische und wehrt sich gegen jegliche Modernisierung. Zuletzt erst Anfang des Jahres, als Verkehrsbetriebe sich im Zuge der Novelle des Personenbeförderungsgesetzes (PBefG) wieder einmal einer innovativen Angebotserweiterung verschlossen (Knie 2021).
Damit ist auch die Tatsache, dass sich der ÖV nicht einmal während einer globalen Krise wie der jetzigen traut über den eigenen Tellerrand zu blicken, nicht der Corona-Pandemie zuzuschreiben, sondern lediglich ein Symptom der grundlegenden Unfähigkeit des ÖV neu und größer zu denken. Die entscheidende Erkenntnis aus der Pandemie sollte daher sein, dass die derzeitige Strategie des ÖV nicht aufgeht. Statt die Scheuklappen aufzuziehen und tatenlos auf ein Leben ohne Corona zu warten, müssen Politik und Verkehrsbetriebe sich besser gestern als heute um ein sorgenfreies ÖV-Fahren trotz Corona bemühen.
Die Ergebnisse der repräsentativen Studie zum Ansteckungsrisiko im ÖV, die noch im April vorliegen sollen, sollten dabei aber nur einen ersten Schritt im aktiven Umgang mit öffentlichen Verkehrsmitteln in der Pandemie bedeuten. Der ÖV muss einsehen, dass er kein Selbstläufer und dessen Nutzung nicht nur zu Zeiten der Pandemie alles andere als selbstverständlich ist. Daher darf er sich auch nicht länger der Digitalisierung entziehen, wenn er wahlfreie Kund*innen und nicht nur diejenigen erreichen will, die keine andere Wahl haben, als öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Will der ÖV selbst zur besseren Wahl werden und auch die ihm ursprünglich zugeschriebene Funktion, das Rückgrat der Verkehrswende zu sein, wahrnehmen, muss er sich grundlegend neu erfinden.
Das Angebot öffentlicher Verkehrsmittel muss insgesamt verbessert, näher an die Menschen herangetragen und verständlicher werden. Fahrten mit dem ÖV dürfen zudem nicht zu teuer und zu unbequem sein. Gerade auf dem Land braucht es nicht nur einen strukturellen Ausbau der ÖV-Verbindungen, sondern auch innovative Erweiterungen des öffentlichen Verkehrs durch Angebote wie Mitfahrmöglichkeiten (Borcherding, Knie und Ruhrort 2019). Sharing- und Ridepooling-Dienste müssen zu einem festen Bestandteil des öffentlichen Verkehrs und ihr Potenzial als sinnvolle Ergänzungen zu Bussen und Bahnen erkannt werden (Knie und Ruhrort 2020). Der öffentliche Verkehr darf sich nicht länger zukunftsfähigen und innovativen Door-to-Door-Lösungen, die unter anderem autonome Flotten bieten können, verschließen (Canzler, Knie und Ruhrort 2019). Vorschläge für eine nachhaltige und starke Zukunft des ÖV, mit der die Klimaziele erreicht werden können, gibt es genug. Verkehrsbetriebe und Politik müssen aber endlich und gerade jetzt in der Corona-Pandemie beginnen, außerhalb ihrer eigenen Komfortzone zu denken und zu handeln.
Weiterführende Links:
- Mobilitätsreport Ausgabe 3 (Dezember)
- Gedämpfte Hoffnung auf die Verkehrswende, Blogbeitrag vom 16.12.2020
- Homeoffice: Eine Chance für die Verkehrswende, Blogbeitrag vom 21.12.2020