Das Märchen vom barrierefreien ÖPNV
Ein Beitrag von Julian Horn
Julian Horn studiert Zukunftsforschung an der Freien Universität
Berlin und ist Gast in der Forschungsgruppe Digitale Mobilität und
gesellschaftliche Differenzierung des Wissenschaftszentrums Berlin
für Sozialforschung (WZB).
Das Märchen vom barrierefreien ÖPNV
Deutschland hat 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet. Ebenso lange gibt es ein Gesetz, wonach der öffentliche Nahverkehr bis 2022 vollständig barrierefrei sein muss. Doch die politischen Versprechen laufen ins Leere.
Am vergangenen Freitag fanden wieder zahlreiche Protestaktionen in ganz Deutschland statt, um die Rechte und die Inklusion von etwa 10,4 Millionen in Deutschland lebenden Menschen mit Behinderungen einzufordern. Der jährlich am 5. Mai stattfindende Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung feierte dieses Jahr sein 30-jähriges Bestehen.
Auch wenn die steigende Zahl an angemeldeten Demonstrationen – 1998 waren es etwa 100 Veranstaltungen, diesmal über 750 – auf eine gewachsene Aufmerksamkeit für dieses wichtige Thema hindeutet, gehören Inklusion und Barrierefreiheit im öffentlichen Raum immer noch nicht zum Standard in unserer Gesellschaft.
Zwar haben sich die letzten drei Bundesregierungen in den Koalitionsverträgen immer die “Förderung der barrierefreien Mobilität” auf die Fahne geschrieben. 2009 hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet und seit dem gleichen Jahr gibt es ein Bundesgesetz, welches besagt, dass der ÖPNV bis zum Jahr 2022 vollständig barrierefrei sein muss. Doch es klafft wieder mal eine große Lücke zwischen dem politischen Versprechen, ein Menschenrecht zu wahren, und der infrastrukturellen Realität.
Die gemeinnützige Initiative “Sozialhelden” hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Realität zu erfassen, und mehrere Projekte ins Leben gerufen, die es Menschen mit Behinderung erleichtern, sich im öffentlichen Raum zu bewegen. Zudem schafft sie Transparenz und deckt Missstände auf.
Die letzte Auswertung der Open-Source-basierten Karte “Wheelmap”, auf der mobilitätseingeschränkte Personen Orte hinsichtlich ihrer Barrierefreiheit bewerten können, ergab, dass rund 40 Prozent der öffentlichen Orte in Deutschland gar nicht oder nur teilweise barrierefrei sind. Flächendeckende und gleichberechtigte Teilhabe sieht anders aus.
Eine Hauptstadt voller Barrieren
Dass der politische Druck offenbar noch nicht groß genug ist, die UN-Konvention endlich verkehrspolitisch umzusetzen, lässt sich gut am Beispiel der Stadt Berlin und der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) zeigen.
Das besagte Ziel, vollständige Barrierefreiheit im öffentlichen Nahverkehr zu erreichen, haben der Senat und die BVG sehr deutlich verfehlt. Von den 175 U-Bahnhöfen in Berlin sind momentan 34 nicht stufenlos zu erreichen. Gleiches gilt für sieben S-Bahn-Stationen.
Die BVG scheint das Problem kaum aus der Ruhe zu bringen. Angaben, wann das Gesetz vollständig erfüllt wird, macht sie nur für rund die Hälfte der betroffenen U-Bahnhöfe. Bei den S-Bahnhöfen wirken die Zeitangaben fast ignorant. Umbaumaßnahmen sind am Nöldnerplatz für 2026 geplant, in Hirschgarten 2027 und in Marienfelde sogar erst für 2029.
Die überlangen Wartezeiten müssen Betroffenen wie eine Diskreditierung vorkommen, hat man es doch auch geschafft, einen gesamten U-Bahn-Abschnitt vom Alexanderplatz zum Brandenburger Tor, dessen Bau zum selben Zeitpunkt wie die Verabschiedung des besagten Gesetzes im Jahr 2009 begann, schon Ende 2020 zu eröffnen.
Hinzu kommt, dass viele der Aufzüge in Berlin nicht funktionieren. Momentan sind es rund 30 Aufzüge, die zeitgleich defekt sind. Darunter ist der einzig vorhandene Aufzug an der zentralen U-Bahn-Station (Dahlem-Dorf) zum Campus der größten Bildungseinrichtung der Stadt, der Freien Universität Berlin.
Hier zeigt sich exemplarisch, dass die Barrieren im ÖPNV und das Versagen der Politik im Grunde ein Spiegel unserer von Ableismus – also der Diskriminierung der Menschen mit Behinderung – geprägten Gesellschaft sind und Inklusion noch lange nicht richtig in den Köpfen der Mehrheit angekommen ist.
Letztlich ist eine klimagerechte Verkehrswende nur mit einer inklusiven und barrierefreien Verkehrspolitik zu haben, sind es doch nicht nur Menschen mit Behinderung, die von den Barrieren im öffentlichen Raum betroffen sind, sondern auch Menschen mit Kinderwagen, ältere Menschen oder weitere mobilitätseingeschränkte Personen.
Von der Bundesregierung bis zu den Verkehrsbetrieben sollten also alle Verantwortlichen daran arbeiten, die Missstände im öffentlichen Raum zu beseitigen und den Umbau von Verkehrseinrichtungen zu beschleunigen – und das Motto des diesjährigen Protesttages ernst nehmen: “Tempo machen für Inklusion – barrierefrei zum Ziel”.
(Dieser Beitrag erschien ebenfalls im Dossier Das #Antiblockiersystem auf klimareporter.de)
Weitere Blogbeiträge von Julian Horn:
- Express-Privatisierung des öffentlichen Raums, Blogbeitrag vom 26.01.2022
- Ridepooling als Appetizer für den Öffentlichen Nahverkehr, Blogbeitrag vom 11.08.2021