Virtuelle Mobilität verändert die physische

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Ein Beitrag von Sarah George und Andreas Knie

Sarah George ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in
der Forschungsgruppe „Digitale Mobilität und soziale
Differenzierung“ am WZB und Doktorandin an der
Universität Hamburg.

 

 

Andreas Knie ist Forschungsgruppenleiter am WZB
und Professor für Soziologie an der TU Berlin.

 

 


Virtuelle Mobilität verändert die physische

Die Pandemie-Jahre haben die Mobilität in Deutschland dauerhaft verändert. Homeoffice ist quer durch alle Schichten stabil etabliert und könnte die räumliche Mobilität verändern. Das wirft bisherige Planungen für die Infrastruktur über den Haufen.

Zu den Folgen der Corona-Pandemie befragt das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) gemeinsam mit dem Institut für angewandte Sozialwissenschaft (Infas) in regelmäßigen Abständen Menschen in Deutschland. Auffällig bei diesen repräsentativen Erhebungen ist, dass sich Homeoffice als Sammelbegriff für ein orts- und zeitflexibles Arbeiten fester etabliert hat als erwartet und mittlerweile in allen Einkommensbereichen Realität ist. Dazu kommt ein extremer Anstieg bei Online-Bestelldiensten.

Damit hat sich die “virtuelle Mobilität” nach der Pandemie rasant erhöht. Sie könnte dazu beitragen, die physische Verkehrslast zu verringern, den CO2-Ausstoß zu senken und die Lebensqualität zu erhöhen.

Weil die Pandemie ein “neues Normal” mit deutlich mehr virtuellen Komponenten geschaffen hat, verlieren auch die Grundlagen der Infrastrukturplanung an Wert. So stellt sich beispielsweise die Frage, ob wir künftig überhaupt noch einen Straßenausbau brauchen.

Die Ergebnisse der aktuellen Umfragen – ein vom Bundesforschungsministerium gefördertes Vorhaben – wurden dabei mit den Werten der Studie “Mobilität in Deutschland” aus dem Jahr 2017 verglichen. Demnach hat sich die Zahl der Menschen, die orts- und zeitflexibel arbeiten, deutlich erhöht.

Homeoffice stabilisiert sich auf Lockdown-Niveau

Im Jahr 2017 lag der Anteil der befragten Arbeitnehmer:innen, die ganz oder zeitweilig im Homeoffice arbeiteten, bei knapp 17 Prozent. Dieser Wert erhöhte sich 2020 im ersten Lockdown auf rund 37 Prozent und blieb 2022 auch nach der Rücknahme aller arbeitsplatzbezogenen Restriktionen bei rund 36 Prozent stabil.

Heute wieder so hoch wie im Lockdown: Homeoffice-Anteil an der arbeitenden Gesamtbevölkerung 2017 bis 2022. (Grafik: WZB)

Die Zahl der Tage, an denen orts- und zeitflexibel gearbeitet wird, ist von durchschnittlich 2,49 im Jahr 2017 auf 2,28 Tage pro Woche im Jahr 2022 nur leicht gesunken. Das bedeutet, dass die Zahl der Menschen, die im Homeoffice arbeiten, sehr deutlich gestiegen ist, dass aber die dort verbrachte Zeit stabil bleibt. Die Menschen verschwinden nicht dauerhaft in der orts- und zeitflexiblen Arbeit, sondern tarieren ihre Arbeitsorte sozusagen aus.

Festhalten lässt sich: Etwas mehr als ein Drittel der befragten Arbeitnehmer:innen verbringt knapp die Hälfte der Arbeitszeit nicht mehr am ursprünglichen Arbeitsplatz. Die Pandemie hat einen bereits vorhandenen Trend deutlich verstärkt und offenkundig Entwicklungen ausgelöst, die das Verständnis von einem ortsbezogenen Arbeitsverhältnis nachhaltig ins Wanken bringen.

Hinzu kommt, dass sich diese Tendenz zum orts- und zeitflexiblen Arbeiten nicht nur stabilisiert, sondern sozusagen auch “demokratisiert” hat. Im Jahr 2017 konnten sich eher die gut Gebildeten und besser Verdienenden diese neue Flexibilität zunutze machen, mittlerweile sind im Jahr 2022 auch untere Einkommensschichten sowie niedrigere formale Bildungsabschlüsse darunter zu finden.

Homeoffice-Anteil 2017 und 2022 nach Einkommensgruppen. (Grafik: WZB)

Menschen mit formal höherer Bildung arbeiten öfter in Bereichen, die bereits sehr stark durch Informations- und Kommunikationstechniken geprägt sind. Dieser Gruppe gelang es sehr frühzeitig, ihren Arbeitsplatz nach Hause oder an andere Standorte zu verlegen. Sie konnte ihren Homeoffice-Anteil im Jahr 2022 sogar noch einmal deutlich ausweiten.

2022 hat sich aber auch der Anteil der Geringverdienenden, die orts- und zeitflexibel arbeiten, gegenüber 2017 stark vergrößert und ist sogar am deutlichsten gestiegen. Hier lässt sich vermuten, dass mit der Zunahme von digitalen Herstellungs- und Dispositionsprozessen auch die Zahl der sogenannten “Klick-Arbeitenden” steigt.

Man kann mutmaßen, dass die Optionen des orts- und zeitflexiblen Arbeitens zwar die Freiheits- und Bequemlichkeitsgrade erhöhen, dass aber auch Abhängigkeiten, Zwänge und Einschränkungen ohne die gewohnte Betriebsförmigkeit von Arbeit deutlich zunehmen. Für prekär beschäftigte Menschen birgt diese Flexibilität ohne eine kollektive Interessensmacht im Hintergrund immer auch die Gefahr einer noch höheren Ausbeutung.

Wer weniger ins Büro muss, fährt weniger

Die abnehmende Bedeutung des festen Arbeitsplatzes hat auch Auswirkungen auf den Verkehr. Bereits die letzte “Mobilität in Deutschland”-Studie aus dem Jahr 2017 zeigte, dass die regelmäßige Arbeit im Homeoffice die Kilometerzahl und damit die Verkehrslast sowie den CO2-Ausstoß auf den Straßen verringert. Diese Tendenz bestätigten auch Untersuchungen von WZB und Infas zu den Folgen der Pandemie aus den Jahren 2020 und 2021.

Personenkilometer mit und ohne Homeoffice, 2020 bis 2022. (Grafik: WZB)

Wie weit die Verkehrsmengen durch ein verändertes Arbeitsverhalten reduziert werden können, muss noch untersucht werden. Dabei sind dann arbeitsplatzbezogene Verkehre sowie alle anderen Bewegungsanlässe zu berücksichtigen.

Frühere Studien zeigen, dass die Wege in der lokalen Umgebung tatsächlich leicht zunehmen. Diese sind jedoch in aller Regel deutlich kürzer und werden überwiegend zu Fuß oder mit dem Fahrrad erledigt.

Eine für die Verkehrswende relevante Tendenz scheint sich abzuzeichnen: Die Menschen, die orts- und zeitlich flexibel arbeiten, verringern ihre Verkehrsleistung. Wenn die Gründe fehlen, ins Büro zu gehen, und Konferenzen mehr und mehr virtuell besucht werden, dann wird weniger gefahren.

Aber die Digitalisierung verändert nicht nur die Arbeitswelt. Die Pandemie hat eine ebenfalls seit Längerem beobachtbare Tendenz noch weiter verschärft, nämlich die des Online-Shoppings – und zwar in all seinen Facetten.

Ladengeschäfte müssen sich neu erfinden

Der Anteil der Menschen, die Online-Bestellungen vornehmen, ist von 5,7 Prozent im Jahr 2017 auf 17,4 Prozent im Jahr 2022 gestiegen. Dabei sind es vor allem hohe und sehr hohe Einkommensklassen, in denen die Menschen ihre Einkäufe oder sonstigen Besorgungen zunehmend online erledigen.

Dieser Befund hilft auch zu erklären, warum bei diesen Einkommensgruppen die Verkehrsleistungen tendenziell zurückgehen – sie “externalisieren” ihre Wege zunehmend. Auch wenn sie sich selbst gar nicht mehr so viel bewegen, lassen sie dafür aber Dienste wie das Einkaufen durch andere Menschen ausführen.

Inwieweit sich die Zunahme des Online-Handels auf die Kilometerleistungen auswirkt und ob es zu ähnlichen Entlastungen wie bei den Arbeitswegen kommt, ist daher noch nicht klar. Erkennbar ist allerdings, dass sich dieses neue Verbraucherverhalten massiv auf den stationären Einzelhandel auswirkt und sich Ladengeschäfte praktisch ganz neu erfinden müssen.

So deuten schon seit Längerem empirische Befunde darauf hin, dass gerade dort, wo sich die Einzelhandelsumsätze stabilisieren, diese Lagen sehr gut fußläufig oder mit dem Fahrrad zu erreichen sind. Das aus den 1960er und 1970er Jahren stammende Vermächtnis, dass der Einzelhandel nur dann funktioniert, wenn er mit dem Auto gut erreichbar ist und entsprechende Parkplätze verfügbar sind, hat sich in den Innenstadtlagen ins Gegenteil verkehrt: Wenn heute überhaupt noch vor Ort eingekauft wird, dann muss die Gesamtqualität des Ortes stimmen, eine Dominanz des fließenden und ruhenden Autoverkehrs ist da eher hinderlich.

Infrastrukturplanung verliert Grundlage

Insgesamt wird sich die verstärkte Orts- und Zeitflexibilität der Arbeitswelt erheblich auf das Verkehrsgeschehen in der Zukunft auswirken. Ohne mögliche Rebound-Effekte zu berücksichtigen, ist zu erwarten, dass zwischen einem Drittel und einem Viertel aller arbeitsplatzbezogenen Wege eingespart werden.

Ginge es nur nach dem Wunsch der Arbeitnehmer:innen, wird sich diese Tendenz sogar noch verstärken, denn die allgemeine Akzeptanz von zeit- und ortsflexibler Arbeit ist hoch. Allerdings stehen dem die Kontrollinteressen der Arbeitgeber:innen entgegen. Ebenfalls ist noch nicht klar, wie viel Flexibilität ein produktives Betriebsklima überhaupt verträgt. Hier befinden wir uns in Deutschland noch im Erprobungsstadium.

In jedem Fall ist eine der Folgen der Pandemie, dass ein Arbeitsverhältnis mit einem festen Betriebsort keine allgemeingültige Norm mehr ist. Genauso ist das Einkaufen im Laden oder die Nutzung von linearen Kulturangeboten nicht mehr das alleinige Maß der Dinge.

Das Leben ist durch die Pandemie noch flexibler, medial vielfältiger und “singulärer” geworden. Damit eröffnen sich auch Chancen, die klassischen Strukturen der physischen Mobilität zu reduzieren, vieles ins “Netz” zu verlagern und damit ein Problem unserer Tage – nämlich zu viel physischer Verkehr – zumindest teilweise lösen zu können.

Das heißt aber auch, dass alle Planungsprämissen für den Ausbau der Infrastruktur, insbesondere der Straßen, obsolet sind. Denn für die hier notwendige positive Nutzen-Kosten-Relation wird – wie beim aktuellen Bundesverkehrswegeplan – immer ein Verkehrsmengenwachstum unterstellt, das dann als Legitimation für Neubauverfahren dient. Ein sofortiges Straßenbau-Moratorium wäre hier die intelligente und vor allen Dingen zeitgemäße Antwort.

(Dieser Beitrag erschien ebenfalls in unserem Dossier #Antiblockiersystem auf klimareporter.de)

 


 

 

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