Wenn Stadtraum-Umgestaltung an manchen Lebensrealitäten vorbeigeht
Ein Beitrag von Vanessa Rösner und Viktoria Scheidler
Vanessa Rösner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin
in der Forschungsgruppe Digitale Mobilität und
gesellschaftliche Differenzierung. Im Projekt Graefekiez
ist sie für die wissenschaftliche Begleitforschung zuständig.
Ihr Fokus liegt auf transdisziplinären und partizipativen
Ansätzen zur Förderung der Nahmobilität in Stadtquartieren.
Viktoria Scheidler ist ebenfalls wissenschaftliche
Mitarbeiterin am WZB. Ihre Interessen liegen vor
allem in der Partizipation und Einbindung der
diversen Gesellschaft in die Forschungs-
und Innovationskultur.
Wenn Stadtraum-Umgestaltung an manchen Lebensrealitäten vorbeigeht
Das Auto ist nicht nur ein Transportmittel. Es spiegelt komplexe soziale, kulturelle und wirtschaftliche Strukturen wider, die unterschiedliche Communitys prägen. Wer eine gerechte Verkehrswende will, muss das beachten.
In einer Welt, die sich zunehmend mit Nachhaltigkeit und Mobilitätswende auseinandersetzt, bleibt die Affinität zum Auto ein Problem. Während einige sich für Alternativen wie Fahrräder, öffentliche Verkehrsmittel oder Sharing-Autos entscheiden, halten andere unbeirrt am eigenen Auto fest.
Diese anhaltende Bindung an das Auto wirft auch Fragen zu individuellen und sozialen Gründen der Verkehrsmittelwahl auf. Dieser Beitrag blickt etwas genauer auf die Autoaffinität einer bestimmten Personengruppe und beleuchtet am Beispiel des Projekts Graefekiez in Berlin die Kluft zwischen der “grünen” Bubble und anderen Lebensrealitäten beim Thema Parkplatzreduktion und Stadtraumgestaltung.
Im November 2023 kam in Berlin-Kreuzberg eine Frauengruppe zusammen, die sich bereit erklärte, mit Forscherinnen aus dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) über die Verkehrswendemaßnahmen im Kiez und die Beteiligung der Bevölkerung zu diskutieren. Die Gruppendiskussion ist Teil der Begleitforschung im Projekt Graefekiez und dient dazu, besonders kritische und selten gehörte Stimmen zur Verkehrswende einzufangen.
Im Graefekiez wurden seit Juni 2023 Parkplätze umgewidmet, um den Stadtteil sicherer, sozialer und grüner zu machen und die Mobilität für alle zu verbessern. In zwei Straßenabschnitten wurden Parkplatzflächen entsiegelt und zu Beeten umfunktioniert oder mit sogenannten Kiezterrassen zum Verweilen sowie für die dortigen Kitas ausgestattet. Gleichzeitig wurden Lade- und Lieferzonen eingerichtet und Mobilitätsstationen mit Car-, Bike- und E-Scooter-Sharing angeboten.
Die Forschungsgruppe “Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung” am WZB begleitet und evaluiert gemeinsam mit weiteren Wissenschaftspartner:innen die Maßnahmen des Bezirks. Dazu gehören qualitative Gruppenerhebungen, gefördert durch das Climate Change Center Berlin Brandenburg.
Ein erstes Gespräch mit Frauen aus der Werner-Düttmann-Siedlung
Neben Gesprächsrunden mit Menschen mit Mobilitätseinschränkungen und Gewerbetreibenden konnte durch Schlüsselpersonen und -institutionen eine Gruppe mit Frauen aus der Werner-Düttmann-Siedlung für ein Gespräch gewonnen werden.
Zwar liegt die Siedlung nicht direkt an den vom Projekt veränderten Straßenabschnitten, als ehemaliges Fördergebiet für das Programm “Soziale Stadt” kommt der Siedlung am südlichen Rand des Graefekiezes allerdings eine besondere Rolle zu: Sie wird bei Planungsverfahren oft nicht berücksichtigt, ist aber laut Klassifizierung im Berliner Umweltgerechtigkeitsatlas im Vergleich zum nördlichen Graefekiez besonders von hohen Luft- und Lärmemissionen betroffen. Viele Anwohner:innen beziehen Sozialleistungen.
Zwar prägt die türkisch-, arabisch- und kurdischsprachige Community mit zwölf Prozent Bevölkerungsanteil den gesamten Graefekiez, besonders stark ist ihre Präsenz jedoch in der Werner-Düttmann-Siedlung: Hier haben 75 Prozent der Bewohner:innen einen Migrationshintergrund (Stand 2019). Ihr Mobilitätsverhalten und die Ansprüche an die lokale Verkehrsinfrastruktur wurden bisher nicht explizit erhoben.
Erreicht wurden die Frauen über den “Dütti-Nachbarschaftstreff“ und das dort stattfindende Frauenfrühstück, das die Stadtteilmütter organisieren. An dem Gruppengespräch nahmen neun Frauen teil, die meisten zwischen 20 und 50. Fast alle sprachen deutsch, teilweise wurde untereinander ins Kurdische übersetzt. Sie wohnen entweder in der Düttmann-Siedlung oder sind durch ihre Arbeit oder den regelmäßigen Besuch im Nachbarschaftstreff stark mit der Siedlung vernetzt.
Aufwertung des Kiezes erreicht die Siedlung am Rande nicht
Die Runde war sehr kommunikativ. Bei Tee und Snacks und in einer lockeren Atmosphäre brachten die Teilnehmerinnen schon in der Vorstellungsrunde Themen ein, die die Anwohner:innen in der Siedlung stark beschäftigen.
Vorrangig geht es den Frauen darum, dass die Schranken zu den privaten Pkw-Stellplätzen in der Siedlung, für die die Anwohner:innen monatlich Geld bezahlen, ständig offen und kaputt sind. Die Zahl der Fremdparker:innen nehme stetig zu und der Frust auf die Hausverwaltung wachse. Zudem wurden andere Probleme wie mangelhafte Müllentsorgung und defekte Aufzüge bemängelt.
Die Teilnehmerinnen stimmten sich oft gegenseitig nickend zu und bekräftigten die Aussagen untereinander. Das Unverständnis, dass in Kontrast zum nördlichen Graefekiez bei ihnen keine Aufwertung im öffentlichen Raum stattfindet, ist groß. Das – eigentlich soziale – Thema Sauberkeit und Ordnung in der Siedlung war den Teilnehmerinnen so wichtig, dass es schwerfiel, auf das Kernthema zu kommen.
Das Auto ist sehr wichtig – auch wenn nur der Vater es nutzt
Besonders interessant waren die Antworten auf die Frage nach dem individuellen Mobilitätsverhalten. Einhellig wurde das Auto als das wichtigste Verkehrsmittel benannt. Dabei berichtete ein Großteil der Frauen, sie seien oftmals zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs, während der Ehemann das Auto zum Beispiel für die Arbeit nutze.
Einige Teilnehmerinnen erzählten, dass sie früher mehrere Autos hatten, aber in den letzten Jahren aufgrund von Parkplatzknappheit und geringeren finanziellen Mitteln ein Auto abschaffen mussten. So meinte eine Gesprächsteilnehmerin:
Wir sind sechs Personen, mit einem Auto für uns, aber das reicht nicht. Mein Mann nimmt … es jeden Tag. Ich habe kein Auto (mehr). Jetzt ist es sehr, sehr schwer geworden für mich.
Es wurde darauf verwiesen, dass ein Auto benötigt werde, um Lebensmittel einzukaufen oder die Kinder zu transportieren. Die begrenzte Verfügbarkeit eines Autos mache es schwierig, diese täglichen Erledigungen zu schaffen und dann auch noch die eigene Arbeit zu stemmen:
Wir haben kein Auto mehr, … weil es einfach … zu teuer geworden ist und mit Parkplätzen (schwierig). Aber ja, trotzdem setzt er (der Vater) sich (gegen das Projekt) ein, denn er weiß ja selbst, wenn er einkaufen geht, kann er nicht vier Kisten Cola und fünf Kisten Wasser irgendwie von A nach B schleppen. Auch wenn wir als Großfamilie dann alle mitgehen und jeder einen Kasten schleppt, ist ja immer noch Einkauf da.
Deutlich wurde: Auch wenn man es sich selbst nicht mehr leisten kann, bleibt das eigene Auto die ideale Mobilitätsform. Alternativen zum Auto werden nicht wirklich erwogen.
Kein Auto ist Luxus: Der kulturelle Stellenwert des Autos
Auch die jüngeren Teilnehmerinnen unterstrichen die Notwendigkeit eines Autos und streben den Erwerb des Führerscheins an, auch wenn dies sehr teuer – und oft für sie zu teuer – geworden ist. Die Fahrerlaubnis werde als essenziell angesehen, erzählte eine Teilnehmerin. Zwar habe sie noch keinen Führerschein, würde aber, sobald sie ihn hat, selbst mit dem Auto fahren.
Auf das Auto zu verzichten, ist für sie ein Luxus, den sich nicht jede erlauben kann. Sie verweist dabei auf die “reichen Bewohner des Bergmannkiezes” im weiter westlich gelegenen Teil Kreuzbergs, die “Grünen”, die überall mit dem Fahrrad hinfahren.
Sich so bewegen zu können, sei auch ein zeitlicher Luxus. Denn das Auto heiße für sie auch, Zeit zu sparen. Zugleich würden genau diese Menschen, die im Alltag Fahrrad fahren, dann mit dem Flugzeug in den Urlaub fliegen.
Die Äußerungen zu den Mobilitätspräferenzen und insbesondere die Statuszuweisungen an das formal gebildete und in der Regel auch gut verdienende grüne innerstädtische Altbaumilieu werden auch durch die Zahlen der Haushaltsbefragung “Mobilität in Deutschland” (MiD) bestätigt. Dabei werden etwa alle sechs Jahre mehr als 150.000 Haushalte detailliert zu ihrem Verkehrs- und auch Reiseverhalten befragt.
Die zuletzt 2017 bundesweit erhobenen MiD-Daten haben gezeigt: Während Haushalte mit einem sehr niedrigen oder niedrigen ökonomischen Status nur in acht beziehungsweise elf Prozent der Reisen das Flugzeug genutzt haben, waren es in vermögenderen Haushalten 17 beziehungsweise 26 Prozent bei einem hohen oder sehr hohen Status. Und je niedriger der ökonomische Status eines Haushalts ist, desto kürzer sind die Reisedistanzen.
Das Projekt Graefekiez, die Beteiligung und die Politik
In der Diskussion wurden häufig Begriffe wie “gerecht”, “ungerecht” und “alle” verwendet. Dabei äußerten die Teilnehmerinnen den Wunsch, dass alle im Stadtteil gleich behandelt und alle Perspektiven berücksichtigt werden. Bisher seien nur die Stimmen der Befürworter:innen gehört worden.
Obwohl die Teilnehmerinnen das Auto weiterhin als das Maß der Dinge ansehen, bekundeten sie dennoch großes Interesse an einem Austausch mit Befürworter:innen der Maßnahmen sowie mit politischen Entscheider:innen, um andere Perspektiven nachvollziehen zu können.
Misstrauen wurde allerdings hinsichtlich der Zielgruppenansprache geäußert: Es wird vermutet, dass nur diejenigen befragt wurden, die die Maßnahmen begrüßen. Des Weiteren wurden Bedenken gegenüber den politischen Kampagnen, insbesondere der Grünen, ausgedrückt.
Die Einstellung zu der Partei, die nach Ansicht der Teilnehmerinnen hauptsächlich auf die Themen “autofrei” und “Parkplätze” fokussiert ist, führte letztendlich sogar dazu, dass Anwohner:innen der Siedlung vor der Abgeordnetenhauswahl 2023 aufgefordert wurden, die Grünen nicht zu wählen beziehungsweise ihre politischen Gegner zu wählen:
Ich kann mich erinnern, dieses Projekt Graefekiez war in der Zeit, wo wir gewählt haben. Und ich kann mich erinnern, damals ist jeder wählen gegangen. … Ja, damit die Grünen nicht gewinnen, ganz einfach. Also ich wurde terrorisiert, geh wählen, geh wählen, geh wählen.
Eine Teilnehmerin sagte zudem, dass sie bei den letzten Wahlen immer die Grünen gewählt habe, dies jedoch aufgrund der Parkplatzsituation und der Tatsache, dass auch private Stellplätze immer teurer werden, nicht mehr tun werde. Dies zeigt deutlich, welchen Stellenwert das Auto in der politischen Diskussion hat, und damit dürfte auch die breitere Stimmung innerhalb der Teilnehmerinnengruppe zum Ausdruck kommen.
“Wir” und die anderen
Eine auf das Graefekiez-Projekt bezogene Sorge wurde mehrfach geäußert: Der Parkdruck werde weiter steigen. Vor allem werden zunehmende Konflikte um private Stellplätze wegen des Parkdrucks durch immer mehr Fremdparker:innen befürchtet. Das wird als unfair empfunden.
Damit einher geht ein gewisses Unverständnis für die Umgestaltung der Parkplätze sowie die Ästhetik. Während das Projekt für Befürworter:innen und Projektpartner damit verbunden ist, die Stadt nachhaltiger und sozial gerechter zu machen oder das Nachbarschaftsgefüge zu stärken, beschrieben die Teilnehmerinnen die Entsiegelung als “fehl am Platz”:
Autos gehören auf die Straße und Pflanzen gehören wohin? In die Natur! Das passt nicht zusammen.
Eigentlich sei die Grünflächenverfügbarkeit im Kiez ausreichend, etwa durch die nahe Hasenheide und diverse Schulhöfe. Wenn es um Klimaresilienz geht, sollte man, statt Parkplätze wegzunehmen, besser die ungenutzten Flächen in der Werner-Düttmann-Siedlung begrünen. Eine der Gesprächsteilnehmerinnen brachte ihr Unverständnis so auf den Punkt:
Ich muss sagen, ich finde es wirklich schon provokant, denn solche Sachen kann man wirklich woanders machen.
Die Diskussion offenbarte ein starkes “Wir-Gefühl”, das in keiner der vorherigen Gruppendiskussionen so deutlich zum Ausdruck kam. Oft wurde von “uns” gesprochen, während die Herausforderungen und Probleme der Siedlung beleuchtet wurden.
Man war sich einig, dass die eigenen Anliegen und Belange nicht gehört würden, während im Projektgebiet Begrünungsmaßnahmen und weitere “Aufwertungen” für die Graefekiez-Bewohner:innen vorgenommen würden. Es gebe eine Diskrepanz zwischen den Bedürfnissen der Siedlung und den Maßnahmen, die von außen vorgenommen wurden, ohne die dort Wohnenden angemessen zu berücksichtigen:
Wir haben so viele große Wiesen hier um die Ecke, warum pflanzen wir da nicht so schöne Sachen hin? Warum bauen wir uns da nicht Sitzecken und Sitzmöglichkeiten hin? Da können sie es gerne machen.
Es geht nicht nur ums Auto
Das Auto als nicht wegzudenkendes Verkehrsmittel und die klare Aufteilung des öffentlichen Raums in den Köpfen der Teilnehmerinnen getreu dem Motto “Autos auf die Straße und Pflanzen auf die Wiese” lassen erahnen, dass das Auto den Teilnehmerinnen nicht nur als Transportmittel dient. Eher spiegelt es die komplexen kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen wider, die diese Communitys prägen.
Die Diskussion zeigte Lebensrealitäten, die von denen der “grünen”, oft soziodemografisch homogenen Blase der Befürworter:innen von Straßenraum-Umgestaltung deutlich abweichen. Oft sind diese Bevölkerungsgruppen – unter anderem aufgrund von Ungerechtigkeitsdynamiken – im Verkehrswende-Diskurs kaum vertreten und schwer zu erreichen.
Das Auto ist nicht nur ein wichtiges Verkehrsmittel und kulturell hoch bedeutsam, es ist darüber hinaus auch mit anderen Themen wie Fairness-Empfinden, Klassismus und damit einhergehender Ab- und Ausgrenzung von unterschiedlichen Lebensrealitäten verbunden.
Als ungerecht wird zudem empfunden, dass ökonomisch starke Haushalte durch ihr Verhalten, zum Beispiel häufigeres Fliegen, weiterhin überproportional mehr Treibhausgase emittieren als die ökonomisch schwächeren Haushalte, denen aber zugleich ihre Autoaffinität vorgeworfen wird.
Schließlich wurde durch die Diskussion auch deutlich, dass sogenannte Push-Maßnahmen wie die Umwidmung von Parkplätzen nicht automatisch dazu beitragen, das Auto als wichtiges Verkehrsmittel zu hinterfragen. Es gilt, die Vielfältigkeit der Einstellungen und die Konflikte um die Verkehrswende, die gar nichts mit dem Verkehr zu tun haben, ernst zu nehmen.
Es ist daher wichtig, sich aktiv darum zu bemühen, gerade diese Stimmen in den Prozess mit aufzunehmen. Sonst wird die Chance, durch die Verkehrswende ein gerechteres Mobilitätssystem zu fördern, vertan.
(Dieser Beitrag erschien ebenfalls in unserem Dossier #Antiblockiersystem auf klimareporter.de)