Berliner Kieze bald ohne Gewerbe?
Ein Beitrag von Vanessa Rösner und Viktoria Scheidler
Vanessa Rösner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin
in der Forschungsgruppe Digitale Mobilität und
gesellschaftliche Differenzierung. Im Projekt Graefekiez
ist sie für die wissenschaftliche Begleitforschung zuständig.
Ihr Fokus liegt auf transdisziplinären und partizipativen
Ansätzen zur Förderung der Nahmobilität in Stadtquartieren.
Viktoria Scheidler ist ebenfalls wissenschaftliche
Mitarbeiterin am WZB. Ihre Interessen liegen vor
allem in der Partizipation und Einbindung der
diversen Gesellschaft in die Forschungs-
und Innovationskultur.
Berliner Kieze bald ohne Gewerbe?
Ein Projekt zur Umwidmung von Parkplätzen in Berlin-Kreuzberg lässt vermuten, dass nicht alle Gewerbe von solchen Verkehrswende-Maßnahmen profitieren. Vor allem Kleingewerbe und Handwerk fühlen sich durch Parkplatznot bedrängt.
Gewerbetreibende stellen sich häufig gegen Maßnahmen zur Umnutzung von Parkplätzen. Dabei kann gerade die Förderung von Fuß- und Radverkehr die Situation der lokalen Wirtschaft in Innenstädten und Stadtteilzentren verbessern. Studien zeigen auch, dass Gewerbetreibende die Nutzung von Autos durch ihre Kundschaft überschätzen.
Im Graefekiez in Berlin-Kreuzberg soll in einem Projekt erprobt werden, wie Straßen der Zukunft aussehen können. Weitere Ziele sind, die Verkehrssicherheit zu erhöhen und die Situation für Gewerbe und Lieferdienste zu verbessern, betont die Verkehrsstadträtin des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg, Annika Gerold (Grüne). Das sind Ziele, die in der Theorie auch die verkehrliche Situation für die Gewerbetreibenden verbessern können.
In Gruppengesprächen zwischen August und Dezember 2023 begleitete und evaluierte die Forschungsgruppe Digitale Mobilität am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) die Maßnahmen des Bezirks. Die qualitative Forschungsarbeit wurde durch das Climate Change Center Berlin Brandenburg finanziert.
Ziel war es, sowohl selten gehörte und marginalisierte Stimmen in der Verkehrswende als auch stark betroffene Stimmen einzufangen.
Nach einem öffentlichen Aufruf zur Beteiligung kam eine kleine Gruppe von fünf Gewerbetreibenden zusammen. Anders als erwartet waren das keine kleinen, inhabergeführten Geschäfte mit Fensterfront zur Straße und auch keine Gastronomiebetriebe, die mit dem Projekt das Wegbleiben von Kund:innen oder Lieferschwierigkeiten befürchteten.
Vielmehr gehörten der Gruppe Personen an, die bisher weniger im Fokus standen, wie Kleingewerbe und handwerkliche Betriebe. Diese sind in der Öffentlichkeit weniger sichtbar, da sie zum Teil in den Innenhöfen beheimatet sind.
Sorge vor Verdrängung aus dem Kiez
Schnell wurde im Gespräch klar, was die Teilnehmer:innen umtreibt: Die Gewerbetreibenden, von denen einige seit mehr als zwei Jahrzehnten im Graefekiez ansässig sind, bemühen sich nach Kräften, der fortschreitenden Verdrängung im Viertel standzuhalten. Die Sorge um ihre Existenz wiegt schwer. Gerade im Handwerk seien sie die letzten Gewerbetreibenden im Kiez, machten sie deutlich. Die Situation sei aufgrund der steigenden Mieten zunehmend herausfordernd.
Aus ihrer Sicht lässt das Projekt im Graefekiez eine Stadt entstehen, mit der sich nicht alle identifizieren können. Beklagt wird, dass handwerkliche Betriebe und ihre Bedürfnisse nicht mitbedacht würden und ein Stadtbild geschaffen werde, das an der Lebensrealität der Teilnehmenden vorbeigehe: “Die schöne neue Welt, wie man sie sich à la Landlust-Magazin vorstellt, in der haben wir nichts verloren“, hieß es.
Ein alteingesessener Anwohner und gleichzeitig Gewerbetreibender berichtete, er habe das Gefühl, nicht mehr “hineinzupassen”. Beschrieben wurde das mit sprachlichen Bildern wie “Bullerbü” oder “Latte Macchiato trinkende Muttis mit ihren Lastenrädern”, die den Kiez dominierten. Es entstehe ein Entfremdungsgefühl, obwohl alle Anwesenden ihre Gewerbe schon lange im Kiez hätten und manche sogar dort oder in angrenzenden Vierteln wohnten. Ein Nachbarschaftsgefühl wie früher gebe es nicht mehr.
Die Mehrheit der Teilnehmer:innen ist auf die Nutzung eines Kfz angewiesen, teilweise sind auch größere Fahrzeuge im Einsatz. Die Reduzierung der Parkmöglichkeiten durch das Projekt führe zu einem verstärkten Wettbewerb um die verbleibenden Parkplätze, hieß es. Dabei komme es zunehmend zu illegalem Parken wie Parken in zweiter Reihe oder Freihalten von Parkflächen.
Die Parkplatzsuche sei zwar schon vorher langwierig gewesen, erfordere nun aber noch mehr Zeitaufwand. Das führe dazu, dass Termine teilweise nicht eingehalten werden könnten.
Auftragsannahme nur noch bei vorhandenem Parkplatz?
Mit den Maßnahmen im Rahmen des Projekts habe sich die Parkplatzsituation deutlich verschlechtert, erklärten die Teilnehmer:innen. Zudem seien ihre Bedürfnisse bei der Projektumsetzung nicht berücksichtigt worden. Die neue Parkplatzknappheit habe sogar dazu geführt, dass ein Betrieb sich gezwungen sehe, den Kiez zu verlassen.
Auch bei den neu eingerichteten Ladezonen im betroffenen Gebiet habe der Bezirk einseitig gedacht, lautet eine weitere Kritik. Das Be- und Entladen ist sowohl für private als auch für gewerbliche Zwecke erlaubt, dabei ist das Parken in den Ladezonen auf drei Minuten begrenzt. In der Realität seien die Ladezonen aber zu klein und permanent zugeparkt, sodass sie für Gewerbetreibende kaum nutzbar seien.
Angemahnt wurde auch, dass es für unterschiedliche Gewerbe unterschiedliche Lösungen geben müsse. So sei das stationäre Gewerbe nicht selbst auf ein Auto angewiesen, müsse aber beliefert werden können und benötige dafür Lieferzonen. Daneben gebe es Gewerbetreibende, die auf dauerhafte Parkplätze angewiesen sind.
Auch die vielen Gewerbetreibenden, die von außerhalb in den Kiez kommen, hätten es immer schwerer, wurde berichtet. Die Parkplatzsituation spitze die bereits bestehende Lage zu, dass bestimmte Gewerke wie Klempner ihre Arbeit dort kaum noch verrichten können, weil sie ihre Fahrzeuge mit dem benötigten Werkzeug nicht mehr in der Nähe des Einsatzortes geparkt bekommen.
Ein Teilnehmer erzählte von Berufskolleg:innen, die bei einem Anruf zuerst fragen: “Kann man bei Ihnen parken?” Ist die Situation am potenziellen Einsatzort angespannt, lehnten handwerkliche und andere Dienstleister Aufträge ab.
Fehlende Informationen, unbeantwortete Anfragen
Neben fehlenden Informationen und unzureichender Einbindung der lokalen Gewerbe durch das Bezirksamt bei den Maßnahmen wurde auch die mangelnde Kommunikation zu den rechtlichen Rahmenbedingungen kritisiert.
Die Gewerbetreibenden beriefen sich insbesondere auf “Zusicherungen” für Parkplätze, die Projektverantwortliche für ihr Gewerbe gegeben hätten, die sich nach Realisierung des Projekts aber als rechtlich nicht umsetzbar erwiesen. Hier seien lange Zeit falsche Auskünfte in der Weise gegeben worden, dass es Parkplätze für die Gewerbetreibenden geben solle. Erst später sei klar geworden, dass gewerbetreibende Personen laut Straßenverkehrsordnung (StVO) keinen Anspruch auf einen Parkplatz im öffentlichen Raum haben.
Während der Gespräche wurde auch deutlich, dass die Teilnehmenden den Projekt-Maßnahmen und dem dahinterstehenden Ziel der Klimaanpassung nicht grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen. Im Gegenteil haben viele der Gewerbetreibenden nach eigener Auskunft auch schon selbst etwas für nachhaltige Mobilität in ihren Unternehmen getan.
In den Gesprächen äußerten die Teilnehmenden mehrmals den Wunsch nach festen Ansprechpartner:innen. Weil es diese nicht gegeben habe, hätten E‑Mails und Anfragen oftmals nicht die richtigen Adressaten erreicht oder seien unbeantwortet geblieben, was den Frust weiter verstärkte.
Parkplätze lassen sich nicht für Gewerbe reservieren
Die größte Kritik war somit nicht, dass die Maßnahmen stattfanden, sondern wie sie umgesetzt wurden – nämlich, dass die Perspektive der Gewerbetreibenden gar nicht gesehen wurde und es keine gemeinsame Suche nach Lösungen gab. Auch für die Fälle, in denen ein Problem rein rechtlich nicht zu lösen sei, forderte die Gruppe Offenheit und Ehrlichkeit vonseiten der Verantwortlichen. Zitat:
“Da würde ich mir von unseren Politikern und Politikerinnen auch einfach das Format wünschen, dass sie sich hinstellen und sagen: ‘Leute, es gibt rechtlich keine Lösung. Aber wir machen ein Projekt und wir bieten eine Lösung an, auch wenn sie nicht durch das Gesetz gedeckt ist. Aber wir stehen hinter euch. Und wir lassen euch nicht im Stich.’ Ich fühle mich wirklich im Stich gelassen.”
Die Maßnahmen im Graefekiez haben seit Projektbeginn die Anzahl der Parkplätze verringert. Auch haben Berichte über illegales Parken zugenommen und es wird intensiv über die Konsequenzen für das ansässige Gewerbe diskutiert, wenn die öffentlichen Parkmöglichkeiten nicht mehr ausreichen. Um die Nutzungsmischung im Graefekiez aufrechtzuerhalten, ist es deshalb entscheidend, rechtlich gangbare Lösungen für das Parken durch Gewerbetreibende, die auf Fahrzeuge angewiesen sind, im öffentlichen Straßenland zu finden und zu erproben.
Rechtlich gibt es in Deutschland zurzeit keine Möglichkeit, Parkplätze ausschließlich für Gewerbefahrzeuge zu reservieren. Falls dies jedoch politisch gewünscht ist, müsste eine Umverteilung des begrenzten öffentlichen Raums erfolgen – auch auf Kosten der privaten Pkw.
(Dieser Beitrag erschien ebenfalls in unserem Dossier #Antiblockiersystem auf klimareporter.de)