Fußgängerzonen in Deutschland – Abschaffen, Ausweiten oder Reanimieren?
Ein Beitrag von Martin Gegner
Martin Gegner ist als Politologe und Stadtsoziologe
Mitglied der Forschungsgruppe „Digitale Mobilität
und soziale Differenzierung“ am WZB. Er wuchs in
einer Kleinstadt ohne Fußgängerzone, aber mit zuviel
Autoverkehr auf. Im WZB-Projekt „Verkehrswende erleben“,
gefördert von der Mercator-Stiftung, beschäftigt er
sich mit den Chancen der Ausweisung von neuen autofreien
Quartieren. Dabei stellte er fest, dass es in Deutschland
bereits in über 3.000 Städten autofreie Zonen gibt.
Allerdings weisen diese klassischen Fußgängerzonen häufig
mehr Probleme als Erfolge auf.
Fußgängerzonen in Deutschland – Abschaffen, Ausweiten oder Reanimieren?
Sie ist in die Jahre gekommen und in den meisten Städten so alltäglich, dass lange Zeit kaum von ihr gesprochen wurde: Die Fußgängerzone. Doch bereits vor der Corona-Pandemie kam angesichts von zunehmenden Problemen die Diskussion auf, wie in Zukunft mit ihr umzugehen sei. Die einen wollen sie „sterben lassen“, die anderen möchten sie „schrumpfen und (teilweise) für den Autoverkehr öffnen“. Allerdings gibt es auch Gegenbeispiele wie in Köln: Dort beschloss der Stadtrat in einer ganz großen Koalition von SPD, CDU, Grünen und Linken, die Innenstadt in den nächsten zehn Jahren komplett autofrei zu machen. Die unterschiedlichen Perspektiven haben mit den unterschiedlichen Erfolgen und Problemen der Städte zu tun. Hier lohnt ein genauerer Blick auf die Entwicklung der Fußgängerzonen in Deutschland seit den 1950er Jahren.
Aufstieg und Fall der Fußgängerzone
In Deutschland wurden wie im westlichen Europa ab den 1950er Jahren und insbesondere in den 1970er und -80er Jahren zahlreiche Fußgängerzonen eingerichtet. Sie waren kein Gegenentwurf zur „autogerechten Stadt“, sondern mehr deren pittoreske Ergänzung. Sie galten zu Beginn als Inseln der „europäischen Stadt“ in einem sich „amerikanisierenden“ Umfeld. Nachdem die Fußgängerzonen in den ersten zehn bis fünfzehn Jahren ihres Bestehens von Bevölkerung und Medien weitgehend positiv bewertet wurden, kam es seit den 1990er Jahren und insbesondere nach der Jahrtausendwende verstärkt zu Problemen und im Zuge dessen zu einer kritischen Wahrnehmung. Damit ist sowohl der anfängliche Erfolg als auch die mittlerweile langanhaltende Krise der Fußgängerzonen unmittelbare Folge der autoaffinen Gesellschaft.
Doch gibt es große Unterschiede: Während in den kleinen Städten die Probleme überwiegen, ist das Konzept der Einkaufsfußgängerzone in den florierenden Metropolen wie Köln oder München nach wie vor attraktiv. Fußgängerzonen sind – zumindest war das so bis zu den Lockdowns infolge der Corona-Pandemie – hier hotspots für das Einkaufen und werden täglich stark frequentiert. Der große Erfolg beim Kaufpublikum zeigt sich unter anderem in sehr hohen Gewerbemieten.
Aber auch in den prosperierenden Großstädten gibt es durchaus Probleme:
Es finden sich immer weniger Geschäfte des täglichen Bedarfs, stattdessen Modeketten, Imbisse, Geschenk- und Medienläden. Die Fußgängerzonen sind uniform und beliebig. Ob in Stuttgart, Bielefeld oder Essen, das Geschäftsangebot ist fast überall gleich. Ein größeres Problem ist jedoch, dass in vielen der mehr als 3.000 deutschen Fußgängerzonen heute ein großer Leerstand von Geschäften herrscht. Die Lösung dieses Problems ist in einer marktliberalen Gesellschaft schwer steuerbar: Schließlich können die Kommunen weder die Öffnung von Läden initiieren noch niedrigere Gewerbemieten dekretieren. Einfluss nehmen können sie nur auf Gestaltung und Größe der Fußgängerzonen.
Vor allen Dingen abends, aber häufig auch tagsüber, sind die Innenstädte verwaist. Das liegt an der Monofunktionalität der Fußgängerzonen, denn sie sind in erster Linie als Einkaufsstraßen konzipiert. Wenige Menschen wohnen dort. Und selbst für die, die dort wohnen, gibt es keinen Grund, abends auf die Straße zu gehen: Es gibt schlichtweg zu wenige attraktive Orte zum Verweilen. Infolge leerer Stadtsäckel sind viele Fußgängerzonen nach jahrzehntelanger Nichtgestaltung verwahrlost.
Ein weiterer Grund für den Niedergang der Fußgängerzonen in vielen kleineren Städten sind die seit den 1980er Jahren gebauten Umgehungsstraßen als perfekte Infrastruktur für die autoaffine Versorgung „auf der grünen Wiese“. Mit der Durchsetzung des Autoimperativs wurde die anfängliche Komplementärfunktion der Fußgängerzonen zur Makulatur: wenn nicht in die von Thomas Sieverts sogenannte „Zwischenstadt“, so konnten die Kleinstädter nun schnell mit dem Auto in die nächstgelegenen Oberzentren fahren. Die Funktionsentleerung der meisten deutschen Innenstädte wurde verstärkt. Die hübsch restaurierten Fassaden gleichen potemkinschen Dörfern. Der derzeitige Online-Handel-Boom gibt den Einkaufs-Fußgängerzonen den Todesstoß. Als Folge wird der Ruf nach Verkleinerung der Fußgängerzonen, vor allen Dingen in Klein- und Mittelstädten, lauter.
Naht die Rettung?
Zur Rettung ihrer Innenstädte setzen viele Verantwortlichen in den deutschen Kommunen auf verstärkte Funktionsmischung, also vor allem auf mehr Wohnen. Auch über die Einrichtung von Coworking-Spaces und die Ansiedlung von produzierendem Gewerbe wird nachgedacht. Dafür müssen die angestrebten Mischgebiete aber zunächst bau- und gewerberechtlich neu ausgewiesen werden, was nach bestehender Rechtslage für viele, vor allem kleinere Kommunen, gar nicht so einfach ist. Zudem ist unklar, wer denn die Coworker in den häufig strukturell überalterten und schrumpfenden Städten sein sollen.
Die Städte müssten ihre diesbezüglichen Strategien mit incentives für junge Menschen beispielsweise aus den boomenden Universitätsstädten kombinieren. Hier ist Wohnraum häufig knapp und teurer. Um Studierende als Bewohner „abzuwerben“ und als new urban pioneers in die Klein- und Mittelstädte zu holen, müssten die Kommunen ihnen etwas bieten. Denkbar wäre (temporär) mietfreies Wohnen und die Übernahme der ÖPNV-Kosten für das Pendeln in die Universitätsstädte. Nur so lassen sich die Fußgängerzonen der Kleinstädte reanimieren. Die Studierenden würden mit ihrem Bedarf neue Geschäftsmodelle in den Kleinstädten provozieren und so in the long run zu ihrer Wiederbelebung beitragen. Die „Öffnung“ für den Autoverkehr ist dagegen der falsche Weg. Er bringt nicht mehr Leben in die Innenstädte, sondern lediglich mehr Alu-Plastik-Kisten auf vier Rädern.
Ein Resümee
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass autofreie Straßen und Quartiere in rein monofunktional strukturierten Räumen (etwa nur Kaufstraßen oder nur Wohnstraßen) mit wenigen Ausnahmen nicht funktionieren. Sie erzeugen vielmehr neue Probleme. Fußgängerzonen haben mehr Aussicht auf Erfolg in Quartieren, wo Arbeiten, Wohnen und Gewerbe gemischt wird. Diese Erkenntnis ist bei weitem nicht neu. Die Mischung ruft jedoch eine zusätzliche Komplexität hervor: sowohl der Zulieferverkehr (für das Gewerbe), der Lieferverkehr (für die privaten Anwohner), als auch die Mobilität von Behinderten sowie Versorgung-, Entsorgung- und Notfallfahrzeuge müssen gewährleistet sein, letzteres 24 Stunden am Tag an sieben Tagen der Wochen.
Für die anderen Funktionen bieten sich temporäre Lösungen an. Ohne klare Regeln wird es nicht gehen: Beispielsweise könnten Liefer- und Entsorgungs-Leistungen nur morgens erbracht werden (was meistens bereits der Fall ist). Gastronomie in autofreien Straßen dürfte aus Gründen der Nachtruhe nur bis 24 Uhr (oder noch früher) erlaubt sein (auch das ist in den meisten Städten bereits der Fall – außer de facto in weiten Teilen der Berliner und Hamburger Innenstädte). Der Fahrradverkehr sollte generell erlaubt sein und durch eine gute Radinfrastruktur (also ebene, oberflächenglatte Radwege) unterstützt werden. Die reinen Fußgängerzonen sollten also zu autofreien Begegnungszonen umgewandelt werden.
Ausnahmen davon sind in den hochfrequentierten Einkaufsfußgängerzonen der Großstädte schon gang und gäbe: hier sind die Zonen – wenn überhaupt – für den Fahrradverkehr lediglich nach bzw. vor Geschäftsschluss geöffnet. Auf diese Einschränkung könnte in den meisten Klein- und Mittelstädten und auch in den kleineren Großstädten verzichtet werden. Allerdings müsste dafür die Infrastruktur geschaffen werden. Fußgängerzonen sollten also nicht nur funktionell, sondern auch verkehrstechnisch mit dem Fahrradverkehr durchmischt werden, bei eindeutigem Vorrang für die Fußgänger. Im Übrigen ist eine Ausweitung von Fußgängerzonen bzw. autofreien Arealen dort möglich, wo sie seit Jahrzehnten erfolgreich sind. In Städten, in denen das Gegenteil der Fall ist, dürften es Projekte für mehr autofreie Straßen und Quartieren generell schwer haben.
Weiterführende Links:
- Gegner, Martin (2021): Fußgängerzonen in Deutschland – Erfolge, Probleme und Perspektiven eines fast hundertjährigen Straßenmodells, in: dérive N° 83 (Apr – Juni / 2021)
- Es leben die 1960er Jahre! Vorwärts zur “autogerechten Stadt”! Blogbeitrag vom 7. April 2021
- Mobilität neu gedacht: Herrenfahrer, Selbstfahrer, Automatenfahrer. Blogbeitrag vom 10. Februar 2021