
“Wohin des Weges? Neue Mobilität als eine Agenda des Wandels”
Ein Beitrag von Weert Canzler und Andreas Knie
Weert Canzler und Andreas Knie leiten die Forschungsgruppe “Digitale Mobilität”
am WZB und sind die Herausgeber der neuen WSI-Mitteilungen, die am 1. Juni 2021 erschienen sind.
“Wohin des Weges? Neue Mobilität als eine Agenda des Wandels”
Ende März hat das Bundesverfassungsgericht einen historischen Beschluss gefällt. Die Bundesregierung wurde angewiesen, Teile des Klimaschutzgesetzes zu präzisieren und zu verschärfen. In der Begründung verweist das Gericht auf die bedrohten Freiheitsrechte künftiger Generationen:
„Danach darf nicht einer Generation zugestanden werden, unter vergleichsweise milder Reduktionslast große Teile des CO2-Budgets zu verbrauchen, wenn damit zugleich den nachfolgenden Generationen eine radikale Reduktionslast überlassen und deren Leben umfassenden Freiheitseinbußen ausgesetzt würde“.
Für den Verkehr bedeutet das, viel schneller aus der Verbrennungsmotortechnik auszusteigen und die Mobilität viel effizienter zu organisieren. Das heißt vor allem: weniger Autoverkehr, keine unnötigen Wege und mehr Platz für Alternativen.
Der Beschluss des Verfassungsgerichtes erfolgt nach einem Jahr Pandemie und der Erfahrung, wie schwierig sich das Austarieren zwischen einer wirkungsvollen Pandemiebekämpfung und der Ermöglichung sozialer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gestaltet. Dabei wurde auch deutlich, dass sich die Folgen der Pandemie höchst ungleich auswirken und die sozialen Verwerfungen der Gesellschaft eher größer geworden sind. Homeoffice reduziert den Berufsverkehr, aber es können im wesentlichen nur Menschen mit mittleren und höheren Einkommen zuhause arbeiten. Kurzarbeit hat vor allen Dingen die unteren Lohngruppen getroffen. Welche Auswirkungen das Homeschooling auf die Bildungskarrieren der Kinder und Jugendlichen hat, wird erst in Jahren sichtbar sein. Die Geschlechterrollen in der Familie erleben eine Re-Traditionalisierung. Und auch im Beruf sind alte informelle Hierarchien zurückgekehrt. Schließlich sind ganze Sektoren wie Kunst und Kultur ins Nichts gefallen. Die Erfahrungen der Pandemie zeigen aber auch: Der vom Verfassungsgericht geforderte schnellere Wandel ist möglich.
Was vorher undenkbar erschien, wurde unter dem Damoklesschwert einer unkontrollierten Epidemie plötzlich praktiziert.
Der Flugverkehr ist auf einen Bruchteil des vorherigen Umfangs geschrumpft. Selbst dort, wo Reisen nicht verboten waren, sondern dienstlich hätten stattfinden können, bestimmten plötzlich Videokonferenzen den Alltag. Die Neuzulassungen von Pkw sind in Deutschland im Jahre 2020 um rund 20 Prozent gesunken, rechnet man das „Dezemberfieber“ der auslaufenden Mehrwertsteuersenkung heraus, dann sind es sogar minus 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Zugleich hat der öffentliche Fern- und Nahverkehr schwer gelitten. Über das ganze Jahr und über alle Segmente und Regionen hinweg waren nur mehr ein Fünftel der ursprünglichen Fahrgäste unterwegs. Die großen Gewinner sind der Fußverkehr, dessen Anteil sich mehr als verdoppelt hat. In den größeren Städten gehörte das Fahrrad dazu, während in den Bussen und Bahnen nur noch die zu finden waren, die keine Alternative haben.
Was bleibt übrig nach den Lockdowns? Eines zumindest zeichnet sich ab: Die Optionen zeit- und ortsflexibel arbeiten zu können, haben sich deutlich erhöht und werden bleiben. Barrieren sind gefallen, die nicht wiederaufgebaut werden können. Das WZB hat errechnet, dass die Zahl der arbeitsbezogenen Wege nur noch rund 70 Prozent des ursprünglichen Volumens betragen wird. Die Folge ist, dass weniger gependelt wird und dass Dienstreisen im In- und Ausland dauerhaft zurückgehen.
Wie wir uns zukünftig und mit welchem Verkehrsmittel wie oft bewegen, hängt also sehr stark von den politischen Rahmenbedingungen ab.
Verkehr ist ja nicht nur Folge gesellschaftlicher Praktiken, sondern zugleich ihre Voraussetzung. So war die Absenkung der Widerständigkeit des Raumes und die Verfügbarkeit von privaten Automobilen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ja die verkehrliche Basis für den Traum vom privaten Glück. Es hat sich ein raumgreifender und entfernungsintensiver Arbeits– und Lebensstil fest etabliert. Dieser wird mit allen politischen Instrumenten auch bis heute stabilisiert. Bereits vor der Pandemie zeigten sich in diesem Modell schon Risse, das Auto verschluckt sich sozusagen am eigenen Erfolg. Der Aufwand für die Beteiligten alles und jedes mit dem Auto bewerkstelligen zu müssen, ist schlicht zu groß. Die Nebenfolgen der Massenmotorisierung für Umwelt und Klima überlagern seinen Nutzen. Mittlerweile machen die Klimagasemissionen des Verkehrs fast ein Drittel aller Emissionen in Deutschland aus. Im Gegensatz zu den anderen Sektoren gibt es im Verkehr seit Jahrzehnten praktisch keine Einsparungen.
Von der Entfernungspauschale über die Straßenverkehrsordnung bis zum Bundesverkehrswegeplan: Der deutsche Staat fühlt sich dem Lebensideal der Nachkriegsjahrzehnte verpflichtet. Das Auto hat nach wie vor Vorfahrt, die dafür notwendige Infrastruktur wird bis heute ausgebaut und der öffentliche Verkehr als Alibi-Veranstaltung einfach nur verwaltet. Alternativen wie digitale Plattformen oder gar Autonome Flotten spielen in diesen Überlegungen keine Rolle. Die bisher vom System profitierenden Autohersteller und ÖV- Betreiber fühlen sich in Deutschland wohl.
Der nötige Wandel wird schmerzhaft und auch die Sozialpartnerschaften in Deutschland vor ganz neue Herausforderungen stellen.
Das gerade erschienene Schwerpunktheft der WSI-Mitteilungen “Wohin des Weges? Neue Mobilität als eine Agenda des Wandels” beschäftigt sich mit diesem Wandel und den entgegenstehenden Beharrungskräften. Zugleich werden die erkennbaren Erosionen in der Gesellschaft benannt und die sich hieraus ergebenden wirtschaftlichen Perspektiven im Verkehrssektor skizziert. Ein Modernisierungspakt in der Mobilität, die über eine reine Veränderung der Antriebe hinausgeht, ist längst überfällig. Dafür braucht es den Mut für neue Bündnisse. Es braucht zugleich das, was das Bundesverfassungsgericht gefordert hat: eine klare politische Rahmensetzung für die Verkehrswende, die die Freiheitsrechte künftiger Generationen nicht einschränkt.
Weiterführende Links:
- Es leben die 1960er Jahre! Vorwärts zur “autogerechten Stadt”! Blogbeitrag vom 07.04.2021
- Herrenfahrer, Selbstfahrer, Automatenfahrer, Blogbeitrag vom 10.02.2021
- Gedämpfte Hoffnung auf die Verkehrswende, Blogbeitrag vom 16.12.2020