Die Musik spielt woanders. Verkehrswende in Europa

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Ein Beitrag von Timo Daum

 

Timo Daum ist Physiker, Hochschullehrer und Sachbuchautor.
Sein Buch „Das Kapital sind wir. Zur Kritik der digitalen
Ökonomie“ erhielt 2018 den Preis „Das politische Buch“ der
Friedrich-Ebert-Stiftung. Timo ist Gast der Forschungsgruppe
Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung
am
Wissenschaftszentrum Berlin (WZB).

 

 


Die Musik spielt woanders. Verkehrswende in Europa

Deutsche Städte als Vorreiter der Verkehrswende? Das war einmal. Heute sind es andere, die das Auto schrittweise herausbefördern. Welche Maßnahmen sind erfolgreich, in welchem Kontext werden sie unternommen, wer sind die entscheidenden Akteure? Ein Überblick – Teil 1.

Freiburg oder Münster sind europaweit als Beispiele erfolgreicher kommunaler Verkehrspolitik bekannt. Ramón Linaza, spanischer Verkehrsaktivist der ersten Stunde, erinnert sich: “Freiburg haben wir immer als Referenz betrachtet.” Jedoch gründet Freiburgs Ruf als Fahrradstadt (verewigt im Tocotronic-Song “Freiburg”) auf einer Politik, die in den 1990er Jahren ihren Höhepunkt hatte.

Außerdem gelang es weder in Freiburg noch in Münster, den Anteil des Autos am Modal Split – der Aufteilung des Verkehrsaufkommens auf verschiedene Verkehrsmittel – zu verringern. Sowohl Straßen als auch Parkplätze wurden munter weitergebaut. Allmählich hat sich in der Verkehrswissenschaft die Erkenntnis durchgesetzt, dass Fördermaßnahmen für alternative Verkehrsmittel – sogenannte “Pull-Maßnahmen” – oft wirkungslos bleiben, wenn nicht gleichzeitig die Attraktivität des privaten Pkw durch “Push-Maßnahmen” eingeschränkt wird.

Von Verkehrswende können wir dann sprechen, wenn sie “den privaten Autoverkehr durch andere Modi reduziert respektive ersetzt”, ist die Soziologin Katharina Manderscheid überzeugt. Auch das International Transport Forum empfiehlt eine radikale Reduzierung von privaten Automobilen als Schlüsselinstrument der Verkehrswende. Legt man diesen Maßstab an, ist hierzulande “keine nennenswerte Verkehrswende zu verzeichnen”, stellt die Mobilitätsforscherin Lisa Ruhrort ernüchtert fest.

Kopenhagen, Wien, Tallinn, Luxemburg, London, Stockholm: Die Verkehrswende findet woanders statt

Auf der Suche nach jüngeren Beispielen für erfolgreiche Verkehrswendemaßnahmen wird man eher im Ausland fündig. In Kopenhagen werden zwei Drittel aller Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt. Auch die österreichische Hauptstadt Wien verfügt über ein gutes Netz an Radwegen, zusätzlich über einen guten Nahverkehr. Mit dem 365-Euro-Jahresticket ist sie Vorbild für viele Kommunen. In Österreich gilt gar seit Oktober 2021 eine 1.095-Euro-Flatrate für das ganze Land.

In Tallinn wiederum entschied sich die Bevölkerung bereits 2012 in einem Referendum für einen kostenlosen Nahverkehr, seit 2013 ist die ÖPNV-Nutzung für Einwohner:innen kostenfrei und wird über die Einkommensteuer finanziert. In Luxemburg sind seit März 2020 alle öffentlichen Verkehrsmittel landesweit kostenlos, die Regelung gilt für Einwohner:innen, Pendler:innen aus dem Ausland und Tourist:innen gleichermaßen.

London und Stockholm wiederum verzeichnen Erfolge bei der Eindämmung des privaten motorisierten Verkehrs durch die Einführung einer City-Maut. Die Innenstadt von Oslo soll bald gänzlich für den Autoverkehr gesperrt sein – gleichzeitig wird allerdings eine neue Autobahn zwischen der Hauptstadt und Trondheim im Norden gebaut.

London hat allein im Jahr 2020 72 sogenannte Low-Density Neighborhoods eingerichtet, vor allem in den Außenbezirken. Das sind kleine Bereiche, in denen nach niederländischem Vorbild die Fahrradinfrastruktur verbessert und Wohnstraßen für den Autoverkehr gesperrt werden, im Volksmund auch “Mini-Hollands” genannt, wie Rachel Aldred, Expertin für aktive Mobilität von der Universität Westminster, erläutert.

Welche Maßnahmen die besten sind, liegt wohl an den konkreten Gegebenheiten und kann von Stadt zu Stadt stark differieren. “Keine Stadt hat alles richtig gemacht”, betont Giulio Mattioli von der TU Dortmund.

Pontevedra: Langer Atem für die autofreie Stadt

Ein Städtchen, das vieles richtig gemacht hat, ist die kleine Hafenstadt Pontevedra in Galicien. Vor über zwanzig Jahren begann hier ein beispielloser Kulturwandel. Noch 1999 war Pontevedra eine gewöhnliche spanische Stadt, von Autos, Lärm und Abgasen geprägt. “Hier fuhren täglich bis zu 14.000 Autos. Die Altstadt war ein einziges Chaos”, erinnert sich Miguel Fernández Lores, Bürgermeister von Pontevedra.

In den folgenden zwei Jahrzehnten gelang es, den motorisierten Privatverkehr nach und nach aus der Innenstadt zu verdrängen. Die größte Fußgängerzone Spaniens entstand in großen Teilen der Innenstadt. Seit Beginn des Jahrtausends hat die Stadt die Zahl der Fahrzeuge, die täglich in der Innenstadt unterwegs sind, von 80.000 auf 7.300 (2018) reduziert – das ist ein Rückgang um mehr als 90 Prozent. Heute werden beeindruckende 65 Prozent der Wege in der Innenstadt zu Fuß zurückgelegt.

Die urbane Transformation von Pontevedra und die Maßnahmen zur Reduzierung des motorisierten Verkehrs in der Innenstadt haben dort die verkehrsbedingten CO2-Emissionen seit 2003 um zwei Drittel reduziert. Pontevedras Bevölkerung lebt nicht nur gesünder, sie ist auch weniger gefährdet: Seit 2009 wurden keine Verkehrstoten mehr registriert. Schlüsselfigur der Verkehrswende in Pontevedra ist zweifellos der bereits vielfach wiedergewählte Bürgermeister des Städtchens. Schon früh machte er sich für eine Kehrtwende in der Verkehrspolitik stark und plädierte für die Vision einer Fußgängerstadt.

Miguel Álvarez vom Mobility Institute in Madrid meint: “Pontevedra hat einen wahren Champion, eine hochrangige politische Persönlichkeit. Der Bürgermeister ist schon ewig im Amt, er konnte in einem Umfeld hoher politischer Stabilität agieren, er hatte eine Basis und hatte eine klare Vorstellung, auf die er gesetzt hat, und er hat sich bestätigt gesehen, hat das weiterverfolgt, das ist ganz wichtig.”

Lest hier den zweiten und abschließenden Teil mit Beispielen aus Paris, Vitoria-Gasteiz und Barcelona.

(Dieser Beitrag erschien ebenfalls auf klimareporter.de)


 

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