It’s the space, stupid!
Ein Beitrag von Weert Canzler
Weert Canzler ist Leiter der Forschungsgruppe
Digitale Mobilität. Er sagt:
“Das Fahrrad ist ideal für kurze Wege. Mehr als die Hälfte
aller Wege ist kürzer als 5 Kilometer. Es braucht jedoch
eine sichere Radinfrastruktur, damit viele auf’s Rad umsteigen.
Die kann es nur geben, wenn Autofahrbahnen und Parkplätze
an den Straßen dafür umgewandelt werden.“
It’s the space, stupid!
Bundesweit konnte das Fahrrad in der Corona-Pandemie seinen Anteil am Verkehrsmarkt nicht erhöhen. Die jüngste dritte Welle der WZB-infas-Befragung zur Mobilität in der Pandemie sieht das Fahrrad bei 12 Prozent der Wege. Das ist ein genauso hoher Anteil wie schon bei der letzten Erhebung „Mobilität in Deutschland“ 2017 – lange vor der Pandemie. Doch sieht es in einzelnen Städten ganz anders aus. In Berlin hat im Coronajahr 2020 der Radverkehr um fast ein Fünftel zugenommen. Auch in anderen großen Städten war der Radverkehr neben dem Zufußgehen ein Gewinner der Verschiebungen in der Verkehrsmittelwahl. Aus Furcht vor Ansteckungen mieden viele Menschen die öffentlichen Verkehrsmittel. Einige stiegen auf das Auto um, andere auf’s Fahrrad.
Was hält mich vom Radfahren ab?
Woran liegt es, dass mancherorts mehr Rad gefahren wird und anderenorts nicht? Der wichtigste Grund ist, ob die Radfahrenden sich trauen oder ob sie Angst haben, das Rad zu nehmen. Das subjektive Sicherheitsgefühl entscheidet. Es sind nicht die Zahlen zur Unfallhäufigkeit, sondern der persönliche Eindruck: fühle ich mich sicher oder habe ich Angst vor Autos, die mich schneiden? Muss ich damit rechnen, dass LKWs in engem Abstand an mir vorbeirauschen und an der nächsten Kreuzung mich gar übersehen?
Wenn ich auch nur einmal erlebt habe, wie eine Tür von einem parkenden Fahrzeug sich unvermittelt vor mir öffnet oder ich plötzlich gezwungen bin, auf die andere Spur zu wechseln, weil ein Auto sich eben gerade entschließt in zweiter Reihe zu halten, bin ich abgeschreckt. Und ich werde dafür sorgen, dass sich meine etwas betagten Eltern und die ungestümen Kinder auf keinen Fall in diese Gefahr begeben.
Solange es keine sicheren Radwege und entschärfte Kreuzungsbereiche gibt, fahren nur hartgesottene Überzeugungs- und Vielfahrer:innen mit dem Rad. Andere, die die Wahl haben, setzen sich vielleicht auch einmal am Wochenende auf den Sattel, um einen Ausflug zu machen. Den einen oder anderen zwingt es auf’s Rad, weil er oder sie sich ein Auto nicht leisten kann und eine öffentliche Anbindung nicht besteht.
Kurzum: wirklich mehr Radverkehr gibt es nur, wenn es eine sichere und vernetzte Infrastruktur für das Rad gibt. Das ist aus dem Beispiel der Niederlande zu lernen. Dort gibt es nicht nur viele vom Autoverkehr getrennte Radwege – so genannte protected bike lanes –, auch zunehmend mehr entschärfte Kreuzungen. Vielerorts wurde ein Netz von Fahrradstraßen angelegt, die nicht nur so heißen, sondern tatsächlich Straßen für die Radfahrenden sind. Autofahrende sind dort bestenfalls Gäste.
Ohne Umverteilung des Verkehrsraumes geht es nicht
Wenn der entscheidende Unterschied der (eigene) Platz für das Radfahren ist, dann heißt das verkehrspolitisch: den Platz für das Radfahren schaffen. Und zwar schnell und konsequent. Die Forderung nach mehr sicheren Radwegen ist weitgehend Konsens, kaum jemand ist ernsthaft gegen mehr Radverkehr. Die meisten finden das prima, auch wenn sie selbst nicht oder vielleicht mal im Urlaub auf den Drahtesel steigen. Doch müssen wir da offen und ganz eindeutig sein: Weil wir den Platz für den Verkehr gerade in den Städten insgesamt nicht einfach ausweiten können, bedeutet eine sichere Radinfrastruktur eine Umverteilung des bestehenden Straßenraumes.
Protected bike lanes gehen zulasten von Autofahrspuren und Parkplätzen. Sichere und übersichtliche Kreuzungen bedeuten verengte Fahrspuren und kein Parken im gesamten Kreuzungsbereich. Fahrradstraßen sind grundsätzlich für die Durchfahrt mit dem Auto tabu. Nur Anlieger dürfen sie nutzen, allerdings nur mit niedriger Geschwindigkeit und ohne das Recht, Fahrräder zu überholen.
Mehr Platz für das Fahrrad ist der Schlüssel für mehr Radverkehr. Einige Städte haben in der Corona-Krise deshalb schnell gehandelt und pop-up-bike lanes eingerichtet. Allen voran der Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Passiert ist dort genau das, was wir vom Autoverkehr schon lange kennen: wer Verkehrswege sät, erntet Verkehr. Das gilt offenbar auch für Radwege. Klar ist aber auch, dass das immer zulasten des jahrzehntelangen bevorzugten Autoverkehres geht. Das ist so und das ist wie jeder Verteilungskonflikt mühsam und anstrengend. Das war – und ist – übrigens auch in den Niederlanden so. In Abwandlung des berühmten Satzes von Bill Clinton gilt: „Es ist der Platz, Dummkopf!“ Und den kann man eben nur einmal verteilen.
Weiterführende Links:
- Brennglas Corona – Wer kann, nutzt das Auto, Blogbeitrag vom 21.07.2021
- Mobilitätsreport Ausgabe 4 (Schwerpunkt Schutzmaßnahmen)
- Blackbox ÖV? Über (Un)wissen in Zeiten der Pandemie, Blogbeitrag vom 31.03.2021
- Gedämpfte Hoffnung auf die Verkehrswende, Blogbeitrag vom 16.12.2020
- Homeoffice: Eine Chance für die Verkehrswende, Blogbeitrag vom 21.12.2020