Bild: Miodrag Asenov/​Pixabay

Mehr Autos stehen in Berlin länger herum

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Ein Beitrag von Weert Canzler

 

 

Weert Canzler ist Co-Leiter der Forschungsgruppe
Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung.
Gemeinsam mit seinem Kollegen Andreas Knie wurde
er 2021 mit dem Bertha-und-Carl-Benz-Preis der
Stadt Mannheim ausgezeichnet.

 

 

 


Mehr Autos stehen in Berlin länger herum

Obwohl mehr Autos verkauft werden, wird seit Jahren weniger Autoverkehr in der Hauptstadt gemessen. Politik für das Auto verliert zunehmend ihre Grundlage. Denn Messstellen irren nicht.

Gefühlt wächst der Autoverkehr, seit es Autos gibt. Auch in Berlin war und ist die Einschätzung verbreitet, dass der motorisierte Individualverkehr auf den Straßen Jahr für Jahr zunimmt.

Gut, während der Corona-Pandemie gab es zu Lockdownzeiten kleine Dellen, aber die sind längst wieder aufgefüllt. Schließlich ist die Hauptstadt eine wachsende Metropole und die Zahl der in der Stadt zugelassenen Pkw nimmt zu und eben nicht ab.

Bundesweit sind es mittlerweile 49 Millionen Autos und in Berlin 1,24 Millionen, wobei in den letzten Jahren jeweils mehrere zehntausend Neuanmeldungen hinzugekommen sind. Die meisten davon gehen auf das Konto von Zugezogenen und sind gewerblich. Immerhin ist Berlin zwischen 2015 und 2023 offiziell von rund 3,5 auf 3,9 Millionen Einwohner:innen gewachsen.

Es scheint dabei vollkommen klar: Mehr Menschen, mehr Autos, also ist mehr los auf den Straßen. Das stimmt aber gar nicht! Tatsächlich hat der Pkw-Verkehr auf den meisten der großen Berliner Straßen abgenommen. Das ergab eine Auswertung von Messstellenzeitreihen, zu finden in der Antwort auf eine kleine Anfrage der Grünen-Abgeordneten Antje Kapek im Abgeordnetenhaus vom 5. Februar 2024.

Straßen werden weniger genutzt

Die in der ganzen Stadt verteilten Messstellen erfassen die “durchschnittliche tägliche Verkehrsstärke” (DTV), sie zählen stumpf jedes Fahrzeug, das vorbeifährt.

Diese DTV war 2015, also Jahre vor der Corona-Pandemie, auf vielen Hauptstraßen höher als 2023. Und Messstellen irren sich nicht. Solange sie in Betrieb sind, zählen sie zuverlässig. So sank beispielsweise die DTV auf der berühmten Autobahn Avus von 2015 bis 2023 um ein Zehntel, auf der sechsspurigen Gradestraße im Stadtteil Neukölln um mehr als ein Drittel und auf dem vierspurigen Adlergestell in Schöneweide um ein Fünftel.

Ob es der Ku’damm in der City West, der Britzer Damm im Süden oder die Rhinstraße im Osten ist: Auf all diesen wichtigen Berliner Straßen ist die durchschnittliche Verkehrsauslastung um zehn Prozent und mehr zurückgegangen. Die Zahlen sind eindeutig: Die meisten großen Straßen werden 2023 weniger genutzt als 2015.

Es gibt nur wenige Ausnahmen. Auf der Malchower Chaussee, einer Ausfallstraße ins nordöstliche Umland, oder auf dem westlichen Spandauer Damm hat die DTV in dieser Zeit zugelegt, aber auch nicht wirklich dramatisch.

Auto als Mobilitätsreserve

So überraschend sind die Ergebnisse aus den DTV-Messungen eigentlich nicht. Seit Jahren gehen die gefahrenen Kilometer pro Fahrzeug in Deutschland zurück. Waren es 2015 noch über 14.000 Kilometer, sind es 2022 fast 2.000 Kilometer weniger.

Es gibt mehr Zweit- und Drittwagen, aber sie werden kaum alle gleichzeitig genutzt. Ab einer bestimmten Schwelle gilt: Je mehr Fahrzeuge angemeldet sind, desto weniger werden die einzelnen Vehikel auch gefahren. Je mehr Fahrzeuge, desto mehr werden sie zu Stehzeugen.

Die Zulassungszahlen des Kraftfahrt-Bundesamts sind übrigens Durchschnittszahlen für die ganze Bundesrepublik. In den Stadtstaaten liegen die durchschnittlichen Fahrleistungen noch einmal deutlich niedriger – in Berlin waren es zuletzt nicht einmal 9.500 Kilometer.

So erklärt sich auch, dass trotz des Anstiegs der Kfz-Zulassungen die gefahrenen Kilometer insgesamt abnehmen. In vielen Innenstadtquartieren ist für viele das Auto nur noch eine Option, eine Art Mobilitätsreserve. Die meisten Wege werden längst zu Fuß, mit dem Rad oder mit Bussen und Bahnen zurückgelegt.

Straßenbau verliert Argumente

Das Gefühl hat – wie oft in der Verkehrspolitik – also getrogen und der eine oder die andere wird ziemlich überrascht sein. Auch deshalb, weil in der politischen Debatte mit aller Macht der Eindruck geschürt wurde und wird, man müsse auf den wachsenden Autoverkehr mehr Rücksicht nehmen und dürfe nicht zu viele Busspuren zulasten von Fahrspuren einrichten oder geschützte Radstreifen bauen.

Mehr noch: Auch der Weiterbau der innerstädtischen Autobahn A 100 und der Neubau der autobahnähnlichen Tangentialverbindung Ost (TVO) seien dringend nötig, um den wachsenden Autoverkehr überhaupt bewältigen zu können.

Aber die Messstellen zeigen, dass das Unsinn ist. Die zentralen Argumente der Autobahn- und TVO-Befürworter fallen wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Vielmehr legen die Ergebnisse der Verkehrszählungen nahe, überdimensionierte Autostraßen sogar zurückzubauen.

Warum drei Spuren unterhalten, wenn zwei genügen? Warum nicht nach Pariser Vorbild in Vorleistung für ein sicheres Radwegenetz auf geschützten Radfahrstreifen gehen und dafür die Hauptstraßen nutzen?

Dann zählen andere Messstellen, nämlich die Fahrradzählstellen. Deren Messungen zeigen übrigens in Berlin seit Jahren in die umgekehrte Richtung: Überall, wo sichere Radverbindungen geschaffen wurden, gehen die Radanteile in die Höhe. Denn Messstellen irren nicht.

(Dieser Beitrag erschien ebenfalls in unserem Dossier das #Antiblockiersystem auf klimareporter.de)


 

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