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Öffentlicher Verkehr: Angebot ohne Kundschaft

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Ein Beitrag von Anke Borcherding

 

 

Anke Borcherding ist wissen­schaft­liche Mit­arbeiterin am
Wissen­schafts­zentrum Berlin für Sozial­forschung (WZB).
Sie beschäftigt sich theoretisch und vor allem praktisch
mit Mobilitäts­projekten.

 

 

 


Angebot ohne Kundschaft

Öffentliche Verkehrsmittel ermöglichten einst Mobilität für alle – günstig, platz- und ressourcensparend. Dann kam das Auto mit dem Versprechen, selbst zu entscheiden, wann und wohin die Reise geht. Warum es nicht gelingen kann, beide Vorteile zu verbinden.

Ist nachhaltige öffentliche Mobilität ohne den öffentlichen Verkehr denkbar? Sind die Öffentlichen das Rückgrat der Verkehrswende? Kann es einen öffentlichen Verkehr geben, bei dem sich die Kundin nicht hauptsächlich wie ein Beförderungsfall fühlt?

Wohl nur, wenn die Strukturen gänzlich auf den Prüfstand gestellt und Schritt für Schritt verändert werden. Da könnten die Betreiber selbst kreativ tätig werden, sich zusammenschließen, doppelte Strukturen abschaffen. Das Deutschlandticket zeigt doch den Weg: ein Fahrschein für alle und alles. Einfach und klar. Vielleicht am Ende sogar nur ein Verbund für alles.

Vom eigenen Pferd zum eigenen Auto

Den öffentlichen Verkehr gibt es schon seit bald 200 Jahren. Er hat ursprünglich mal das Individualverkehrsmittel Pferd abgelöst und wurde dann vom Auto seit den 1960er-Jahren quasi überrollt.

Öffentliche Verkehrsmittel waren mal eine schöne Sache, als die Elektrische die Menschen in Massen transportiert hat, als Busse und Bahnen ihnen die Mühsal des schnellen Voran- und Fortkommens abgenommen haben und Mobilität eine Option für alle wurde. Wie damals Sisi in der Kutsche auf Reisen gehen, das war dann nicht mehr nur das Privileg von wenigen, das ging dann für sehr viele Menschen. Das Privileg der Fortbewegung ohne eigenen Kraftaufwand wurde sozialisiert.

Schon 1888 fuhr Bertha Benz im Motor-Wagen von Mannheim nach Pforzheim, individuell und ohne eigene Kraft. Und eine neue Geschichte nahm ihren Lauf. Denn nun war die Idee geboren, dass man sich nicht fahren lassen muss, sich nicht anpassen muss, sondern selbst und individuell entscheiden kann, wann und wohin die Reise geht. Sich und sein Schicksal selbst lenken. Vom eigenen Pferd ins eigene Auto.

Und diese Idee war so verlockend, dass schlaue Strategen das Potenzial erkannten und eine gigantische Fördermaschine anwarfen. Die Grundlage legten zwei disruptive Konzepte: Der Fordismus ermöglichte nach dem Ersten Weltkrieg die industrielle Produktion, die Autoproduktion am Fließband und damit in Massen.

Und in den 1930er-Jahren wurde mit der Charta von Athen der Plan für eine neue Stadt entworfen: die autogerechte Stadt – und in der Folge ein öffentlich gefördertes Verkehrssystem für den privaten Verkehr, mit Straßen, Autobahnen, Parkplätzen, Parkhäusern, Tankstellen, Regeln, Geld.

Der Traum von der Gesellschaft, die das Auto in den Mittelpunkt stellt, ihm alles unterordnet, seien es Städte, Menschen, Natur oder Technik, dieser Traum startete seinen Siegeszug.

Gefangen in der Autofalle

Der öffentliche Verkehr humpelte hinterher: liniengebunden, mit festem Takt, festem Preis, gerne auch nachts oder am Wochenende gar nicht – egal, was die Beförderungsfälle gerne wollen würden. Das Auto war sowieso die bessere Idee. Das hätte ewig so weitergehen können, weil es doch so schön ist, keine Kraft aufwenden zu müssen, wenn man von A nach B will. Einfach fahren. Freiheit.

Aber dann meldete sich die Realität und zeigte mehrere Krisen an: Klima, Luft, Landschaft, Fläche, Menschen, alle leiden mittlerweile massiv unter dem schönen Traum. Das kann so nicht weitergehen. Aber was tun? Und da kommen wir zum Kern.

Wir sitzen in der Autofalle, denn wir haben uns alles so gebaut, dass wir gar nicht so einfach aussteigen können. Wir sind das so gewohnt, das Auto, wir kennen Straßen nur mit Autos, wir kennen nur Geschwindigkeit, wir haben die Gesetze so um das Auto gebaut, dass wir völlig veränderungsunfähig und handlungsunfähig sind.

Wir können gar nicht auf den umweltfreundlicheren öffentlichen Verkehr umsteigen. Wir kennen die Öffentlichen meistens gar nicht, wir nutzen sie nicht, wir hören, dass es dort schlecht läuft, dass wenig zusammenpasst, wir fahren mit dem Auto an Bushaltestellen vorbei und sind froh, dass wir uns das nicht antun müssen.

ÖPNV: Nicht für uns, nicht mit uns

Die Aufgabe des öffentlichen Verkehrs ist die Bedienung der Mobilitätsreste, die das Auto nicht schafft: Menschen ohne Führerschein, sehr junge Menschen und sehr alte, Menschen ohne die nötigen Mittel und Zugänge für ein eigenes Auto oder den Führerschein.

Ein Fahrplan, der nicht zum Umstieg einlädt. (© Anke Borcherding)

Wer keinen Zugang zum Auto hat, hat oft auch keinen Zugang zur Standard-Gesellschaft: Familie, Job, Haus, Auto, Kinder. Und so stellt sich der öffentliche Verkehr auch dar: geplant nicht für die eigene Mobilität, sondern für die Grundversorgung dieser anderen.

Und die müssen sich den Vorgaben anpassen. Sie müssen an der Bushaltestelle stehen, wenn der Fahrplan das anzeigt. Den vorgegebenen Preis zahlen, ohne ein Anrecht auf einen Sitzplatz, auf saubere Fahrzeuge, auf Zuverlässigkeit, auf freundlichen Umgang.

Im Bus und in der Bahn haben die Kunden nichts zu melden, es gibt keine Mitbestimmung – von Selbstbestimmung gar nicht zu reden – und viele, die nicht Treppen steigen können, fahren eben nicht mit.

Der öffentliche Verkehr ist ein Ort der Disziplinierung und Ausgrenzung. Und aber auch ein Ort des Regelbruchs: Füße auf die Sitze, Handy auf laut stellen, Müll liegen lassen, auch Gewalt gegen andere.

Es klafft eine Lücke zwischen der mentalen Befindlichkeit der Kundschaft und der Performance der Betreiber: auf der einen Seite schöne Pläne für immer wieder neue Angebote, auf der anderen Seite kaputte Toiletten und verpasste Anschlüsse.

Am Bedarf vorbei in die Pleite

In den 600 Mitgliedsbetrieben des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen arbeiten rund 152.000 Menschen im ÖPNV. Davon sind etwa 85.000 im Fahrdienst mit Bussen und Bahnen, 38.000 im technischen Dienst und 29.000 in der Verwaltung tätig.

Das heißt, es machen sehr viele Menschen das Gleiche, betreiben den gleichen bürokratischen Aufwand für Fahrpläne und Tickets für den eigenen Zuständigkeitsbereich. Das Deutschlandticket zeigt gerade das Potenzial für ein einfaches System. Ein Fahrschein für alles im öffentlichen Verkehr. Bundesweit.

Für die Betreiber sollte das Anlass sein, über die eigenen Rollen, Strukturen und Ziele nachzudenken. Wozu Apps für jeden Klecker-Verbund, wenn das Angebot nicht stimmt? Wieso fahren leere Busse stumpf ihre Strecken ab, wenn es keine Kundschaft gibt? Wieso fahren Busse vom Bahnhof los, wenn die Bahn noch nicht angekommen ist? Wieso fahren Rufbusse dann doch nur wieder zu Haltestellen und nicht zum Ziel?

Weil das System eine Planwirtschaft ist. Es wird exekutiert, was am Schreibtisch geplant und bestellt wird – was aber an den Mobilitätsbedürfnissen der Menschen vorbeigeht. Maximal zehn Prozent Auslastung dokumentieren das Dilemma. Ein riesiger Apparat betreibt Daseinsvorsorge für eine Kundschaft, die das gar nicht will.

“Normale” Unternehmen wären pleite bei solchen Zahlen. Eine Verkehrswende ist in und mit den bestehenden Strukturen des öffentlichen Verkehrs jedenfalls nicht zu machen.

(Dieser Beitrag erschien ebenfalls in unserem Dossier #Antiblockiersystem auf klimareporter.de)


 

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