Bild: Uwe Hiksch/​Flickr

Ein Straßenbauprojekt wider alle Vernunft

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Ein Beitrag von Weert Canzler

 

 

Weert Canzler ist Co-Leiter der Forschungsgruppe
Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung.
Gemeinsam mit seinem Kollegen Andreas Knie wurde
er 2021 mit dem Bertha-und-Carl-Benz-Preis der
Stadt Mannheim ausgezeichnet.

 

 

 


Ein Straßenbauprojekt wider alle Vernunft

Obwohl das Zeitalter der Automobilität seinen Höhepunkt schon lange hinter sich hat, soll es im Berliner Osten mit einer vierspurigen Quasi-Autobahn künstlich wiederbelebt werden.

Sie hat einen drögen verkehrsbürokratischen Namen und ist eine verkappte Autobahn: die sogenannte “Tangentialverbindung Ost”, kurz TVO. Die Schnellstraße soll im Berliner Osten die Stadtbezirke Marzahn-Hellersdorf und Treptow-Köpenick verbinden.

Der Plan für die TVO wurde bereits vor mehr als 50 Jahren entwickelt, damals als “Zukunftsprojekt” für die autogerechte Hauptstadt der DDR. Mittlerweile ist aus dem planwirtschaftlichen Straßenprojekt ein üppiges Vorhaben der Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands geworden: Die TVO soll zwei Fahrspuren pro Fahrtrichtung erhalten, was dem angeblichen Bedarf geschuldet sein soll. Entsprechend umfänglich werden die Auf- und Abfahrten ausfallen.

Die gut sieben Kilometer lange neue Straßentangente soll zudem größtenteils entlang der Bahnlinie des sogenannten Berliner Außenrings verlaufen. Dabei werden nicht nur wertvolle Baumbestände vor allem in der Wuhlheide zerstört. Zugleich wird auch eine Trasse in Beschlag genommen, die bisher für eine weitere Schienenverbindung vorgesehen war.

Anfang Mai dieses Jahres hat nun das Planfeststellungsverfahren für das voraussichtlich mehr als 400 Millionen Euro teure Vorhaben begonnen. Nicht wenig für einen jährlichen Berliner Landeshaushalt von rund 39 Milliarden Euro, wo es absehbar Einsparungen an vielen Stellen geben wird.

Wer Straßen sät, erntet Verkehr

Klar ist: Es wird eine Reihe von Einwänden betroffener Bürger:innen und eine Klage von Natur- und Umweltschutzorganisationen geben. Aber betroffen sind nicht allein die Anrainer im Berliner Südosten und die malträtierte Natur. Betroffen sind auch die ganze Stadt und die angrenzende Brandenburger Region.

Denn dieser verkappte Autobahnbau führt eine jahrzehntelange Verkehrspolitik des Vorrangs für das Auto einfach fort. Und das in einer Zeit, in der Berlin die selbst gesteckten Klimaschutzziele ebenso wie die im Mobilitätsgesetz geforderten Verlagerungen vom Auto auf den Umweltverbund weit zu verfehlen droht.

Eine fast ein halbes Jahrhundert alte Straßenplanung wird zusätzlich aufgebläht. Aus einst zwei Spuren werden jetzt vier. Und das wird als Entlastung für die Bürgerinnen und Bürger im Ostteil der Stadt verkauft. Mehr kognitive Dissonanz geht kaum. Wir wissen, dass neue Straßen zusätzlichen Kraftfahrzeug-Verkehr anlocken. Das Ergebnis weiterer attraktiver Verkehrsgelegenheiten ist induzierter Verkehr.

Was für den Radverkehr und den öffentlichen Verkehr gilt, gilt auch für den Kfz-Verkehr: Wer Straßen sät, erntet Verkehr. Da wird die TVO keine Ausnahme bilden, im schlimmsten Fall wird sie zusätzlich den Schwerverkehr vom äußeren Autobahnring abziehen, wo er heute Maut zahlen muss.

Das Auto ist längst am Ende seiner Möglichkeiten, die Klimakrise verlangt Entsiegelungen und keine weiteren Betonpisten. Dennoch werden hier Uralt-Planungen zur autogerechten Stadt sogar noch einmal potenziert. Induzierter Verkehr ist das eine, Tendenzen der Stagnation oder sogar der Reduktion des Verkehrs sind das andere.

Aus der Zeit gefallen

Automatisierte Verkehrszählungen auf vielen großen Straßen in Berlin und auch in vielen anderen Städten und Regionen zeigen ein eher überraschendes Ergebnis: Vielerorts steigt die Zahl der erfassten Fahrzeuge nicht nur nicht, sondern sie sinkt sogar. Und das ist nicht erst seit der Corona-Pandemie so.

Dazu kommt, dass auch die durchschnittliche Fahrleistung der Pkw nach Angaben des Kraftfahrt-Bundesamtes seit Jahren sinkt. Von 2015 bis 2022 sank die Jahresleistung je Pkw von 14.300 auf 12.400 Kilometer. Zwar gibt es immer mehr Autos, weil die Zulassungen steigen, aber gleichzeitig stehen die Autos auch mehr herum. Sie werden tatsächlich mehr und mehr zu Stehzeugen.

Hinzu kommen die Effekte der gegenüber der Vor-Corona-Zeit deutlich höheren Homeoffice-Anteile, die weniger Pendel- und Dienstreiseverkehr bedeuten. Für fast ein Viertel aller Beschäftigten ist das Zuhause-Arbeiten an mehreren Tagen pro Woche das “neue Normal”.

Selbst wenn dann mehr Freizeitwege unternommen werden, ist davon auszugehen, dass sich der Pkw-Verkehr über den Tag gleichmäßiger verteilt. Die stauanfälligen Spitzen in der berüchtigten Rushhour werden flacher, die Auslastung der Straßen ausgewogener.

Aus Klimaschutzgründen sowieso, aber auch aus verkehrspolitischen Gründen sind neue Straßenbauvorhaben wie die TVO vollkommen aus der Zeit gefallen.

(Dieser Beitrag erschien ebenfalls in unserem Dossier das #Antiblockiersystem auf klimareporter.de)


 

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